Willkommen in der virtuellen Welt in Rot

Dieser Blog dient mehrerer Funktionen:
Einerseits um mit mir selbst ins Reine zu kommen, andererseits um interessierte Leser an den wissenschaftlichen Sozialismus von Karl Marx und Friedrich Engels heranzuführen.
Neben ideologischen Fragen werden hier bei Bedarf auch Themen aus der Alltagspolitik versucht darzustellen.

Samstag, 13. November 2010

Erlebnisbericht Wendland 2010

Organisiert wurde die Hinreise von einem unparteilichen Marburger Anti-Atom-Bündnis, mit dem ich auch schon im September zu einer Großdemonstration gegen die Energiepolitik der Regierung in Berlin gefahren bin. Im Vorfeld der Protestaktionen, genauer in den Herbstferien, habe ich bereits an ein Aktionstraining teilgenommen, wo man durch einen erfahrenen „Trainer“ auf die Aktionsformen zum Castor-Transport vorbereitet wurde: Z.B. wie man sich am besten von der Polizei während einer Blockaderäumung wegtragen lässt, wie man eine Polizeikette durchfließt, wie es mit Nahrung und Schlafmöglichkeiten aussieht etc. etc. Auch habe ich während des Aktionstrainings drei Jugendliche aus Marburg kennengelernt, mit denen ich mich schließlich zu einer Bezugsgruppe für die Blockade-Aktion auf der Landtstraße zusammengeschlossen habe.
Mein Anreiz zur Teilnahme an den Protesten setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen:
- zuallererst meine tiefe Empörung aufgrund der bevorstehenden Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke durch die schwarz-gelbe Regierung und das damit verbundene Aufkündigen des Atomkompromisses von 2001
- die ungelöste Endlagerfrage: Es gibt einfach kein „Abstellplatz“ für jahrhundertelang radioaktiv strahlenden Atommüll. Der Entschluss, trotzdem die Produktion von noch mehr Atommüll zu tolerieren, erscheint mir kurzsichtig und unverantwortlich
- die durch die Laufzeitverlängerung hervorgerufene Verzögerung in der Entwicklung Erneuerbarer Energien
- und schließlich meine politische Überzeugung, dass ein objektiver Widerspruch herrscht zwischen parlamentarischer Demokratie und dem Willen der Bevölkerung. Durch die Teilnahme an den Protesten wollte ich verdeutlichen, dass beides nicht zwangsweise identisch ist und die Demokratie damit nur eingeschränkt gilt

Am Samstag sind schließlich von Marburg fünf Busse losgefahren. Leider kamen wir aufgrund von Staus und Parkplatzmangel zwei Stunden zu spät zur Kundgebung. Sei´s drum – ich konnte für die nächsten Tage mein letztes Stück Fleisch essen. Anschließend sind wir -der Organisation sei Dank- per Shuttle-Bus in das Zeltlager Gedelitz gefahren, wo ich mein Zelt aufgebaut habe. Dort hat sich meine Bezugsgruppe auch mit einer erfahreneren Bezugsgruppe aus Hamburg zusammengeschlossen. Unser Name lautete „Blauwahl“.
Sonntagmorgen ist schließlich das gesamte Camp (~1.500 Menschen) Richtung Landstraße zwischen Gorleben und dem Endlager gezogen. Da wir mit einer Polizeikette vor der Landstraße rechneten, haben wir uns in 5 Finger aufgeteilt. Diese 5-Finger-Taktik wurde schon erfolgreich in Heiligendamm ausprobiert und sorgt dafür, dass man eine Polizeikette ohne größere Verluste gewaltfrei durchfließen kann. Jeder Finger besteht aus mindestens 100, in unserem Fall ca. 300 Menschen. Diese Finger laufen in gespreizter Laufrichtung friedlich auf die Polizeikette zu. Kurz vor dem Erreichen der Polizeikette lösen sich die Finger auf, sodass im letzten Moment eine ausgestreute Menschenmenge die Polizeikette möglichst in die Länge zieht. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass möglichst viele gewaltfrei durch die Polizeikette durchkommen bzw. durch“fließen“ können, am Größten. Doch zu unserer Überraschung war die Landstraße leergefegt. Ohne größere Probleme konnten wir diesen wichtigen Abschnitt besetzen. Dies lag daran, dass der Großteil der eingesetzten ca. 16.500 Polizisten mit der Abwehr der „Castor? Schottern!“-Aktion beschäftigt war. Wenn auch den Berichten zufolge das Schottern nicht sehr erfolgreich gewesen sein sollte, so haben diese uns doch den Rücken freihalten können.
Meine Bezugsgruppe (Ich, drei aus Marburg, vier aus Hamburg) hat sich für einen längerfristigen Aufenthalt eingerichtet: Der von uns besetzte Straßenabschnitt wurde mit einer Plastikfolie und gold-silbernen Wärmedecken unterlegt, damit die Kälte im Boden blieb. Anschließend kam noch eine Matraze darauf, eine Isomatte, schließlich der Schlafsack, im Schlafsack noch eine gold-silberne Wärmedecke und eine zusätzliche Plastikplane als Regenschutz. Wir waren für die Nächte unter freien Himmel also gut gerüstet, sodass wir weder geschwitzt noch besonders gefroren haben.
Bis Montagabend kamen noch ca. 2.500 Menschen, die meisten davon von den abgeschlossenen „Castor?Schottern!“-Aktionen, zu uns – sofern sie noch Energie hatten. x-tausendmalquer hat sich vollständig mit den Schotter-Aktionen solidarisiert und Schotterer zu unserer Blockade willkommen geheißen, sofern sie sich aber am gewaltfreien Aktionskonsens des zivilen Ungehorsams halten würden. Dieser Aktionskonsens von x-tausendmalquer beinhaltet u.a.: Gewaltfreiheit, Respekt gegenüber dem Polizisten als Menschen, Ungehorsamkeit gegenüber Vorschriften zum Schutz des Castor-Transportes, Widerstand gegen Polizeiwillkür und -ganz wichtig- hierarchiefreie Strukturen. Dies wurde versucht dadurch zu erreichen, dass für jede zu treffende Entscheidung bereits innerhalb der Bezugsgruppe diskutiert und sich dann auf ein Gruppenkonsens geeinigt wurde, welcher wiederum im Sprecherrat durch den Gruppensprecher vertreten wurde. Dieses basisdemokratische Prinzip von x-tausendmalquer hat mich beeindruckt. Der Sprecher einer Bezugsgruppe wurde von jedem Gruppenmitglied gewählt, dieser vertrat dann die vorher besprochenen Meinungen und Interessen jeden Gruppenmitgliedes im sg. Sprecher/Innenrat. Im Sprecherrat wurde alles Organisatorische besprochen und abgestimmt. Die Ergebnisse des Sprecherrates wurden wiederum nach der Sitzung vom Sprecher jedem Basisgruppen-Mitglied mitgeteilt. Dieses Prinzip wurde konsequent verfolgt uns sorgte für ein großes Vertrauen der Protestler gegenüber den Organisatoren.

Die Zeit ging auf der Landstraße relativ schnell vorüber. Man konnte neue, meist gleichgesinnte Menschen kennen lernen, mit seiner Bezugsgruppe Karten spielen, Transparente anschauen, den Polizisten beim Frieren zuschauen, nochmal an Aktionstrainings zur bevorstehenden Räumung teilnehmen, mit anderen Protestlieder trällern, sich an Feuertonnen aufwärmen und und und... Sonntagabends haben es die Organisatoren von x-tausendmalquer trotz der Illegalität unserer Aktion geschafft, eine kleine Bühne auf der Landstraße aufzustellen und eine DJ-Band zu engagieren, welche die jungen Teilnehmern einen Abend mit Disco-Feeling verwöhnt haben.
Nicht minder gut organisiert war die Versorgung der Blockierer. Für jeden der x-tausend Teilnehmer gab es stets heiße Getränke (Kräutertee, Schwarzer Tee, Kaffee, manchmal auch heiße Schokolade), mittags gab es warme Mahlzeiten (natürlich nur vegan), morgens und abends konnte man sich ausreichend Brote schmieren. Unabhängig von den eigentlichen Organisatoren wurde sogar ein Pizza-Stand aufgebaut, wofür man aber verständlicherweise lange anstehen musste – andererseits, man hatte ja eh nichts besseres zu tun. Ein paar Bürger von Gorleben waren sogar solidarisch genug, um morgens mit beschmierten Broten herumzulaufen und diese an hungrige Frühaufsteher zu verteilen. Montagnachmittags habe ich persönlich mit anderen Mitgliedern meiner Bezugsgruppe die Blockierer mit Waffeln -teils vegan, teils mit Ei und Milch- versorgt. Die Blauwahl-Mitglieder aus Hamburg hatten ein spezielles Waffeleisen mitgebracht: Ein durch eine Autobatterie angetriebener Ventilator verwandelte ein kleines, durch Kastanien genährtes Feuer zu einer ausreichend großen Stichflamme, um das oben hängende Waffeleisen zu erhitzen. Das Waffeleisen selbst war eine Spezialkonstruktion aus Österreich, in welche in der Oberseite das Logo „Atomkraft? Nein Danke!“ eingraviert ist.
Für die Folgen des Essens standen Dixi-Toiletten parat. Die Polizei war sogar tolerant genug, diese einmal täglich per Spezial-LKW absaugen zu lassen.
Ein riesiges Glück hatten wir mit dem Wetter. Sonntag gab es größtenteils Sonnenschein, Montag war es zwar bewölkt, es regnete aber nicht. Regenjacke und -hose konnten also im Rucksack bleiben. Einziges Problem war der bereits am Abend einsetzende Morgentau, den wir z.T. nasse Schlafsäcke zu verdanken hatten.

Die Handy-Netze waren nicht immer voll funktionsfähig, aber x-tausendmalquer informierte uns regelmäßig durch Lautsprecherdurchsagen vom aktuellen Geschehen rund um unserer Blockade-Aktion. Für große allgemeine Erheiterung sorgte z.B. die Nachricht, dass ein Bauer ca. 2000 Schafe und Ziegen auf die Straße getrieben hat, sodass die Polizei erstmals mit tierischen Blockierern konfrontiert gewesen ist. Noch erfolgreicher allerdings war die sehnlich erwartete Greenpeace-Aktion: Getarnt als Bier-LKW blockierte er eine entscheidende Kreuzung und schaffte es, sich innerhalb weniger Sekunden im Boden einzubetonieren – samt zwei Aktivisten, deren kompletter Unterkörper ebenfalls einbetoniert gewesen war. 13 Stunden brauchte die Polizei, um dieses doch sehr spezielles Problem schadenslos zu lösen.
Montagabend lag schließlich bereits diese dumpfe Vorahnung in der Luft, dass die folgende Nacht die letzte Nacht auf der Straße sein würde. Und so war es auch, gegen 21 Uhr forderte die Polizei zum Verlassen der Blockade auf. Allerdings zog es sich mit der Räumung doch noch hin, denn die Wendländer Bauern haben mit Treckern wichtige Zufahrtsstraßen der Polizei blockiert, sodass die Anzahl an Polizisten vor Ort nicht für eine Räumung ausreichte. Erst gegen drei Uhr nachts waren wohl genügend Polizisten aus Sachsen anwesend – die Räumung begann. Doch da sie nur von einer Seite räumten, und unsere Blauwahl-Gruppe eher am anderen Ende der Blockade saß bzw. lag, konnte trotz Räumung noch gut und gern zwei Stunden geschlafen werden. Gegen fünf Uhr bin ich schließlich aufgestanden und habe meine Sachen in aller Ruhe im Rucksack verstaut, den Schlafsack zusammengestaut und schließlich auf die Polizei gewartet. Inzwischen hat die (Bundes-)Polizei angefangen auch am anderen Ende der Blockade zu räumen. Dies wurde leider erst sehr spät bemerkt, sodass die Polizei aufgrund fehlender Presse ruppig und ungeduldig gegen Blockade-Teilnehmer vorgehen konnte. Letztendlich mussten diese Bundespolizisten selbst von Lautsprechern der eigenen Polizei zur Mäßigung aufgerufen werden. Gegen halb sieben schließlich war es soweit, zwei fertig aussehende Bundespolizisten haben mit gespielter Freundlichkeit gefragt, ob ich denn freiwillig mitkommen würde. Ich verneinte natürlich, und so haben sie mich ein paar Meter weiter weg auf einen angrenzenden Fahrradweg getragen, wo sich meine Bezugsgruppe auch wieder gesammelt hatte. Anschließend sind wir gemeinsam zurück ins Zeltlager Gedelitz gegangen, denn den Strahlen des Castor-Transportes wollten wir uns nicht unnötig aussetzen.
Zur Räumung muss gesagt werden, dass die Polizei dort freundlich, deeskalierend und rücksichtsvoll agiert hat, wo Presse und Fotoapparate präsent waren, und dort unverhältnismäßig, ruppig und eilig agiert hat, wo diese fehlten. Es war also nicht verwunderlich, dass Blockierer regelmäßig die Presse zu sich gerufen haben.
Zurück im Camp habe ich mich endlich mal wieder umziehen können, habe das Zelt abgebaut, nochmal was gegessen und ein letztes Mal mit der kompletten Bezugsgruppe zusammengesessen, wo jeder von uns ein Resümee abgegeben hat, wie er die letzten Tage empfand. Die Marburger Mitglieder unserer Bezugsgruppe und ich haben letztlich gemeinsam den Rückweg gen Südwesten angetreten. Gegen 20 Uhr war ich wieder zu Hause in Biedenkopf.
Jetzt, einige Tage später und mit genügend zeitlichen Abstand, kann ich die Blockade-Aktion ruhigen Gewissens als Erfolg bewerten. Nicht nur konnte ich Protest zeigen und den Druck auf die Regierung zusammen mit ca. 5000 Mitaktivisten erhöhen, sondern die Tage im Wendland haben auch mir ganz persönlich einiges gebracht. Ich konnte neue Erfahrungen sammeln, die man eben nur sammeln kann, wenn man zwei Tage und zwei Nächte ununterbrochen auf der Landtstraße verbringt, ich konnte neue Menschen kennen lernen und Bekanntschaften schließen und auch einfach alles, was einem sonst im Alltag verfolgt, mal hinter mich lassen. Obwohl auf einer Landstraße „eingeengt“, war es doch ein bisher unbekanntes Gefühl der inneren Freiheit, welches mir hoffentlich auch zukünftig Antrieb sein wird. Von dem Bereich der Hygiene mal abgesehen: Die Castorblockade hat sich gelohnt und ich würde es sofort wiederholen.
Überraschend positiv waren auch die Reaktionen mir persönlich gegenüber im heimatlichen Hinterland. In die 11.Jahrgangsstufe wurde ich eingeladen, um einen mündlichen Erlebnisbericht abzugeben, mehrere Lehrer haben sich interessiert bekundigt, ein Biolehrer an meiner Schule hat gar selber Erlebnisse aus den 90er Jahren im Wendland mit mir ausgetauscht. Es ist wirklich nicht so, dass die Schule bzw. das Lehrerkollegium Teilnahme an politischen Aktionen auch während der Schulzeit strikt ablehnend gegenüber stände.
Nachtrag: Soeben kommt die Meldung, dass diverse Unions-Landesminister dafür sind, die zusätzlichen Polizeikosten auf die Demonstranten abzuwälzen. Es stimmt mich nachdenklich, dass der umweltbewusste und generell politische Protest von der Regierung nicht gewürdigt wird, wo sie doch sonst die angebliche Politikverdrossenheit der Jugend, die in Wahrheit aber eine Parteienverdrossenheit ist, bedauern. Anstatt die Möglichkeiten an politischer Partizipation auch außerhalb der Wahlkabinen zu fördern, versucht es die bürgerliche Regierung nun, diese einzuschränken und Aktivisten einzuschüchtern. Die Kriminalisierung Andersdenkender ist eigentlich Wesensmerkmal eines sg. Unrechtsstaates. Die Opposition in und außerhalb des Parlamentes, besondern die SPD, muss aufpassen, dass der Rechtsstaat und Möglichkeiten zur demokratischer Teilhabe nicht immer weiter eingeschränkt werden. Käme der Vorschlag der Justiz- bzw. Innenminister von Niedersachen und Bayern durch, dass Demonstranten für ihren Protest zahlen müssen, wäre dies ein eklatanter Eingriff in demokratische Grundrechte des mündigen Bürgers.


Links:
https://www.x-tausendmalquer.de/
http://www.castor2010.de/
Online-Artikel:
http://www.tagesschau.de/inland/castorkosten100.html
http://www.taz.de/1/archiv/detailsuche/?tx_hptazsearch_pi1[search_term]=castor&tx_hptazsearch_pi2[submit_button].x=0&tx_hptazsearch_pi2[submit_button].y=0
http://www.jungewelt.de/suche/index.php?and=castor&x=0&y=0&search=Suchen
Bilder:
http://www.publixviewing.de/index.php?cont=news&id=83&n=1
http://www.taz.de/index.php?id=bildergalerie&tx_gooffotoboek_pi1[fid]=1&tx_gooffotoboek_pi1[srcdir]=Castor-2010&tx_gooffotoboek_pi1[func]=combine
Videos:
http://www.spiegel.de/flash/flash-24723.html

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