Am 30.Juni 2011 fand im Gießener Café Amélie ein Diskussionsvortrag mit Modaira Rubio Marcano (venezolanische Journalistin und Mitglied der Kommunistischen Partei Venezuelas) über das Thema „Entwicklung und Perspektiven der bolivarischen Revolution – Gibt es eine sozialistische Perspektive?“ statt. Modaira Rubio Marcano (geboren 1973 in Caracas) hat ihr Hochschulstudium mit einer Arbeit zu Geschlechterfragen und Außenpolitik abgeschlossen. Seitdem arbeitet sie als Journalistin überwiegend zu dem Thema Geschlechtergerechtigkeit unter lateinamerikanischen Aspekten. Sie ist Mitglied eines internationalen Journalistennetzwerkes mit Gendervision sowie Mitglied der Frauenbewegung Venezuelas. Für ihre Arbeit als Journalistin arbeitete sie bei verschiedenen Printmedien.
In ihrem Vortrag thematisiert sie die sozialistische Perspektive der bolivarischen Revolution: Angestoßen u.a. durch Hugo Chávez wird v.a. in Venezuela der Sozialismus des 21.Jahrhunderts diskutiert. Und seit dem Beginn der Bolivarischen Revolution hat sich bereits vieles verändert: Umfangreiche Nationalisierungsmaßnahmen in der Wirtschaft, stärkere Einbindung der Bevölkerung in politische Prozesse u.a. durch Consejos Comunales, Programme in den Bereichen Gesundheit und Bildung (Misiones), welche besonders den Armen zugute kommen.
Modaira Rubio Marcano referierte u.a. über die Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die Rolle der Kommunistischen Partei Venezuelas im Bolivarischen Prozess, Erfolge, Missstände und Ziele der Bolivarischen Revolution, die Rolle der Frauenbewegung, neue Widersprüche in der Errichtung des Sozialismus sowie über die Bedeutung des kommenden Jahres 2012 für die Revolution. Im Folgenden nun eine thesenartig notierte Zusammenfassung des Diskussionvortrages:
- Der Bolivarische Prozess ist seit 1998 ein antiimperialistischer und seit 2004 ein zusätzlicher sozialistischer Prozess. Ziel des Prozesses ist die Beseitigung des kapitalistischen Systems und seine Ersetzung durch den Sozialismus. Dieser Prozess ist fortschrittlich, antimonopolistisch und demokratisch und hat das Ziel, den Reichtum gleichmäßig zu verteilen.
- Die Partido Comunista de Venezuela (PCV; dt: Kommunistische Partei Venezuelas) unterstützt diesen Prozess von links.
- Im Zentrum des Kampfes steht die Änderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Um dieses Ziel der Änderung der Kräfteverhältnisse zu erreichen, nimmt das aktive und organisierte werktätige Volk Einfluss durch die Gründung von Consejos Comunales (dt.: kommunale Räte).
- Durch den Aufbau von Consejos Comunales sollen Räume erkämpft und die Poder Popular (dt.: Volksmacht) geschaffen werden, welche im Gegensatz zu den Machtstrukturen des bürgerlichen Staates steht.
- Neben der Arbeiterklasse wirken auch Bauern, die städtische Mittelschicht und die kleine nicht-monopolistische Bourgeoisie an diesem Prozess mit. Die Einheit der fortschrittlichen Kräfte ist Voraussetzung, um die Macht der proimperialistischen Bourgeoisie und der Finanzoligarchie zurückzudrängen, welche gegen den Transformationsprozess zum Sozialismus ankämpfen.
- Bisherige Erfolge der Bolivarischen Revolution: Die Privatisierung der Erdölindustrie und strategisch wichtiger Schlüsselindustrien (Strom, Wasser, öffentliche Dienstleistungen) an das Finanzkapital wurde gebremst und z.T. auch wieder zurückgenommen. Vor 1999 war die Erdölindustrie kurz davor, auf eine antipatriotische Weise an transnationale Konzerne ausgeliefert zu werden. Der Neoliberalismus wurde in Venezuela also ausgebremst und die Haupteinnahmequellen des Volkes gesichert.
Außerdem wird der Großgrundbesitz bekämpft.
- Nächster Schritt muss die Einführung einer partizipativen Planung der Wirtschaft mit aktiver Beteiligung der Werktätigen sein. Dies zu erreichen wird zwar noch ein langer Weg sein, zeigt aber eine sozialistische Perspektive des Bolivarischen Prozesses auf.
- Die heutige venezolanische Arbeiterklasse reorganisiert sich von 40 Jahren sozialdemokratischer Herrschaft der „falschen Demokratie“, in der Gewerkschaften im Dienste der herrschenden Sozialdemokratie standen. So kam es auch dazu, dass die Gewerkschaft CTV den 2.Putschversuch gegen Presidente Chavez unterstützt hat und anschließend dank der progressiven Arbeiterklasse von der politischen Bühne verschwunden ist. Die neue Gewerkschaft UNT ist zwar Pro dem Bolivarischen Prozess, bildet aber noch keine sozialistische Einheitsgewerkschaft.
- Die Rolle der Partido Comunista de Venezuela ist zwar klein, sie bildet aber eine hohe moralische Kraft und Stärke. So brachte die PCV bspw. einen Gesetzesentwurf ein, der sich für eine Arbeitszeitverkürzung und vermehrter kollektiver Arbeiterkontrolle (Schaffung von Räten und kollektive Leitung der Betriebe) ausspricht. Dieser wurde zwar leider im Parlament nicht angenommen, er ist aber innerhalb der Arbeiterklasse bekannt geworden. Teile der klassenbewussten Arbeiterklasse gründen nun dennoch sozialistische Räte.
- Dies erzeugt Zusammenstöße mit der staatlichen Bürokratie. Staatsfunktionäre widersetzen sich der Control Obrero (dt.: Arbeiterkontrolle). Hier entstehen also neue Widersprüche zwischen der Arbeiterklasse und der staatlichen Bürokratie.
- Dem Bolivarischen Prozess ist es bewusst, dass zwischen dem subjektiv Gesagten / Gewollten und der objektiven Wirklichkeit ein Widerspruch besteht bzw. bestehen kann. Der Sozialismus lässt sich nicht durch ein Dekret einführen.
- Der Sozialismus im 21.Jahrhundert wird ein feministischer Sozialismus sein, der die Abschaffung der doppelten Ausbeutung der Frau zum Ziel hat. Die venezolanische Frauenbewegung organisiert sich in Arbeitskreisen und ist auch Mitverantwortlich für verschiedene Frauenrechte in der Bolivarischen Verfassung. Bsp.: In Artikel 88 wurde das Recht der Hausfrau auf soziale Sicherheit festgelegt. Das Recht der Frau auf ein gewaltfreies Leben wurde insofern konkretisiert, dass der Begriff „Gewalt“ definiert worden ist. So zählt heute auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als eine Form der Gewalt.
- Das Jahr 2012 wird ein entscheidendes Jahr der Bolivarischer Revolution sein. Die Partido Comunista de Venezuela wird die Präsidentschaftskandidatur von Hugo Chávez unterstützen, da er die Garantie für die Fortsetzung des Bolivarischen Prozesses ist.
- Das erste Ziel muss es sein, die politische Einheit aller linken Kräfte in einen Patriotischen Pol herzustellen, um seine Wiederwahl zu sichern.
Der letzendliche Stimmenvorsprung Chávez´s muss beträchtlich sein, um das Projekt Sozialismus im 21.Jahrundert weiter vorantreiben zu können. Bei Erfolg muss das Wahlbündnis „Patriotischer Pol“ sich zu einer kollektiven Führung weiterentwickeln, welche die Revolution weiter vorantreiben wird.
- Zu der Rolle von Hugo Chávez in der Bolivarischen Revolution: Der sg. „Chavismus“ ist ein Terminus von oppositionellen Leuten, die von dem realen Bolivarischen Prozess ablenken wollen. Chávez stellt in diesem Prozess eine Hauptpersönlichkeit dar, das Hauptsubjekt ist aber das venezolanische (werktätige) Volk. Es gibt keinen „Chavismus“. Chávez konnte sich nur dank dem organisierten Volk an der Macht halten (Bsp.: Putschversuche im April 2002 und um die Jahreswende 2002/03). Das Volk wiederum hat erkannt, dass Chávez an der Spitze der Bolivarischen Revolution eine historische Notwendigkeit darstellt.
- Phänomen in Venezuela: Aus den 70er gibt es interessante Beiträge zum Sozialismus durch linke Studenten und aus Teilen der Intelligenz. Heute sind diese die schärfsten Gegner von Hugo Chávez. Ihr reaktionäre Kritik am Bolivarischen Prozess triebe einem aufgeklärten Bürger die Schamesröte ins Gesicht. Bspw. sagen diese ganz offen und ungestört in den Medien, in Venezuela gebe es keine Meinungsfreiheit. Oder sie sagen während Wahlkampagnen, in Venezuela herrsche eine „Castro-kommunistische Diktatur“ und nehmen dabei Einfluss von dem Parlament aus.
- Zur Rolle der Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV; dt.: Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) im Bolivarischen Prozess: Die PSUV ist eine neue, im Aufbau und in der Formierung begriffene fortschrittliche Partei. Es gibt dort antikommunistische Elememte und Elemente, welche die Zusammenarbeit mit der PCV strikt befürworten. Ebenso gibt es dort Teile, welche die Control Obrero befürworten, andere Teile wiederum halten an der staatlichen Bürokratie fest.
- Die Bolivarische Republik Venezuela wird 2015 der einzige Staat sein, welche die Millenniumsziele der Vereinten Nationen erfüllt haben wird (Überwindung der extremen Armut, alle Kinder am Bildungswesen teilnehmend, Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung und zu Lebensmitteln). Im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas ist der Hunger in Venezuela heute nicht mehr existent.
- Allerdings bleibt die Korruption eines der Hauptprobleme im Land. Mittel für Sozialprogramme werden durchaus auch andersweitig, d.h. zur eigenen Bereicherung, eingesetzt. Die existente Korruption kann nur durch eine soziale Kontrolle reguliert werden.
- Ferner ist sich die PCV ebenfalls bewusst darüber, dass die auf Erdöl-Export basierende Ökonomie Venezuelas ein Problem darstellt, welches nur durch eine angehende Industrialisierung gelöst werden kann.
- Um die Souveränität der Lebensmittelproduktion zu erreichen, sollen auch kleinere und mittlere Produzenten in der Landwirtschaft gefördert werden.
Willkommen in der virtuellen Welt in Rot
Dieser Blog dient mehrerer Funktionen:
Einerseits um mit mir selbst ins Reine zu kommen, andererseits um interessierte Leser an den wissenschaftlichen Sozialismus von Karl Marx und Friedrich Engels heranzuführen.
Neben ideologischen Fragen werden hier bei Bedarf auch Themen aus der Alltagspolitik versucht darzustellen.
Einerseits um mit mir selbst ins Reine zu kommen, andererseits um interessierte Leser an den wissenschaftlichen Sozialismus von Karl Marx und Friedrich Engels heranzuführen.
Neben ideologischen Fragen werden hier bei Bedarf auch Themen aus der Alltagspolitik versucht darzustellen.
Sonntag, 3. Juli 2011
Dienstag, 12. April 2011
Imperialismustheorie von David Harvey
Nachdem ich mich im Januar bereits mit dem historischen Imperialismus beschäftigt habe, möchte ich nun eine moderne Imperialismustheorie von David Harvey vorstellen. Harvey ist US-amerikanischer Geologe und -natürlich- Marxist, er beschäftigt sich also aus marxistischer Perspektive mit der ländlichen Ausbreitung des Kapitalismus.
3 Phasen des US-Imperialismus
Harvey unterschiedet zwischen drei verschiedenen Formen US-imperialistischer Tätigkeit:
I.Phase:
Diese Phase hatte ihre Hochzeit bis ca. 1970. Sie ist gekennzeichnet durch eine indirekte Kontrolle anderer Staaten durch Kompradorenregierungen. Die USA geben Präsidenten v.a. von lateinamerikanischen Staaten Finanz- und Militärhilfen, dafür tut dieser, was die US-Regierung von ihm verlangt. Dieses Bündnis gewährleistet die Ausbeutung der betroffenen Staaten durch die Regierung selbst (private Bereicherung) und durch US-amerikanische Konzerne. Es besteht also eine Mischung aus Zwang und Konsens mit irgendeiner oligarchisch herrschenden Gruppe.
Als Paradebeispiele lassen sich Nicaragua unter Präsident Somoza und das damalige Persien unter dem Shah anführen.
Die II.Phase lässt sich von den 70ern bis zu den 90ern datieren. Harvey nennt diese Form den "neoliberalen Imperialismus". Man bedient sich hier der Macht des Finanzkapitals, manifestiert in Organisationen wie der WTO und des IWF. Durch Strukturanpassungsprogramme soll das neoliberale Freihandelsmodell weltweit durchgesetzt werden, d.h. offene Kapitalmärkte, offene Warenmärkte, keine Schranken für ausländische Investitionen etc. Immer, wenn Staaten in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, mussten sich diese an das IWF wenden, um Kredite gewährt zu bekommen. Der IWF gewährt diese Kredite aber nur, wenn die betroffenen Staaten im Gegenzug privatisieren, soziale Leistungen kürzen und ihre Kapitalmärkte liberalisieren, d.h. öffnen.
Paradebeispiel: Der Sturz Allendes in Chile und Ersetzung durch den US-hörigen Faschisten Pinochet. Chile wurde zum Experimentierfeld der Chicagoer Schule, das Modell des neoliberalen Wirtschaftssystems wurde hier zum ersten Mal vollständig durchgeführt (totale Privatisierungen).
Zu beachten ist, dass dies kein exklusiv amerikanisches Modell ist, sondern von anderen zentralen kapitalistischen Mächte wie die EU und Japan unterstützt wird.
Die III.Phase ist die gegenwärtige und wird als "neokonservativer Imperialismus" bezeichnet. Dieser neokonservativer Imperialismus ist nicht in Abgrenzung zum neoliberalen Imperialismus zu sehen, sondern als ihr Bestandteil. Die neokonservative Form des US-Imperialismus kennzeichnet sich nur dadurch, dass es vermehrt versucht, die neoliberale Wirtschaftsordnung mit militärischen Gewaltmaßnahmen und direkten Interventionen durchzusetzen.
Das neokonservative Modell kommt also dort zum Ausdruck, wo sich das neoliberale Modell nicht durch die Druckmittel von IWF und WTO friedlich durchsetzen lässt. Das ist z.B. in Ölstaaten so, die langfristig unabhängig von Finanzhilfen agieren können. So ist das große Interesse der USA an militärischen Interventionen im gesamten Nahen Osten zu erklären. Ölstaaten sind nicht über den IWF zu disziplinieren, sie geraten nicht in Finanzkrisen wie Nicht-Ölstaaten, weshalb das altbewährte Mittel der brachialen Gewalt herhalten muss, um diese Sonderfälle in den liberalisierten Weltmarkt und die neoliberale Weltordnung zu integrieren.
Die Neokonservativen in den USA verheimlichen diese Absicht auch gar nicht. Ihr Ziel ist, im Namen der westlichen Demokratien in der ganzen Region des Nahen Ostens die Freiheit zu verbreiten. Unter Freiheit ist in diesem Fall selbstverständlich nur die Freiheit des Marktes und des Handels zu verstehen. Zitat von G.W.Bush: „Wir haben dem irakischen Volk die Freiheit gebracht, und unsere Vorstellung ist, dem gesamten Mittleren Osten die Freiheit zu bringen.“
Paradebeispiele: Irak, Afghanistan. Das Maßnahmenprojekt für den Irak ist identisch mit dem neoliberalen Modell, welches in Chile bereits verwirklicht worden war.
Diese 3 Phasen des US-Imperialismus greifen selbstverständlich auch ineinander über. Das Konzept der indirekten Kontrolle, also der I.Phase, gilt auch heute noch in einigen Fällen.
Akkumulation durch Enteignung
Das Merkmal des modernen Imperialismus ist die Akkumulation durch Enteignung, was auch die ökonomische Grundlage des neoliberalen Imperialismus bildet. Diese findet statt sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie.
Dabei werden besonders im Zentrum auch funktionierende Ökonomien eines Staates Kredite verwehrt und diese so in Ruin getrieben, sodass das Großkapital als „Retter“ Firmen für geringen Preis aufkaufen kann.
Bsp. für Methoden der Akkumulation durch Enteignung:
- Abbau des Sozialstaates bzw. Wohlfahrtsstaates und sozialer Errungenschaften der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch Privatisierungen öffentlicher Institutionen, Leistungen und Güter
→ Permanente Enteignung der Bevölkerung an ihren Gemeinschaftsgütern
- Amerikanischen Familienbetrieben wurden im Agrarsektor Kredite verweigert und gingen bankrott. Industriell-agrarische Großunternehmen konnten ihre Betriebe sodann übernehmen
→ Enteignung US-amerikanischer Kleinfarmer
- Mexikanische Kleinbauern wirtschafteten bis in die 90er Jahre mit einer auf Gemeinschaftseigentum basierenden Anbaufläche (indigene Kollektivrechte). Als Mexiko in Finanz- und Schuldenkrisen geriet und die IWF um Kreditunterstützung bat, wurde dem mexikanische Staat von der IWF zur Auflage gemacht, dass er das auf Gemeinschaftseigentum basierende Agrarsystem privatisieren muss. D.h., der mexikanische Staat bekam nur Kredite, da er durch die Armee die Kleinbauern um ihr Land enteignet und ihrer traditionellen Rechten beraubt hat, sodass das US-Agrarbusiness sich dort ansiedeln konnte.
In diesem Fall hatte dies massive Aufstandsbewegungen der Zapatisten in Südmexiko zur Folge, welche wiederum von der mexikanischen Armee auf Druck von der USA niedergeschlagen werden musste.
→ Enteignung der mexikanischen Bauen durch den eigenen Staat und seinem Militär auf Druck des US-Kapitals
Harvey unterscheidet zwischen zwei Arten der kapitalistischen Akkumulation:
I.)Erweiterte Reproduktion: „Normaler“ Akkumulationsvorgang, Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, Mehrwert, Rationalisierungen, Investitionen bzw. technische Modernisierungen etc. Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens.
II.)Akkumulation durch Enteignung: Begleitender Akkumulationsfaktor, beruht auf Diebstahl, Betrug und Enteignung. Diesem Akkumulationstyp ist es zu verdanken, dass das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate nicht zum Zusammenbruch des Kapitalismus führt.
In der neoliberalen Phase des Imperialismus nahm der II.Faktor zu, während der I.Faktor -der noch in den 50er und 60er Jahre große Bedeutung hatte- in seiner Bedeutung zumindest für das Zentrum abnahm. Wohlgemerkt handelt es sich bei der II.Phase nur um eine relative Akkumulation. Enteignungen an sich schaffen keine neuen Werte wie die Ausbeutung der Arbeitskraft, sondern verteilt Reichtum, Arbeit und Werte nur um.
→ Polarisierung von Reichtum und Arbeit sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene
→ Anknüpfung an der sg. Ursprünglichen Akkumulation unter Enteignung der Landarbeiter. Die sg. Ursprüngliche Akkumulation hat also nie ein Ende gefunden, sondern besteht bis heute fort.
Schlussfolgerungen:
Der mit dem modernen Imperialismus einhergehende Neoliberalismus ist gekennzeichnet durch eine gigantische Maschinerie der Enteignung (Enteignungsökonomie). Der Enteignungsprozess des Marktes ist als strukturelle Gewalt des heutigen Kapitalismus zu verstehen. Die strukturelle Überakkumulation der Marktwirtschaft lässt sich nur lösen durch eine Erhöhung des Akkumulationpotenzials, also durch Enteignungsprozesse.
Der Staat dient als gewaltsamer Garant des Enteignungsprozesses (Bsp. Agenda 2010, Mexiko)(enge Verflechtung von Kapital und Staat).
Funktion des Staates im modernen Imperialismus:
Schaffung einer Umgebung, in der Akkumulation stattfinden kann. Jeder Staat möchte dabei, dass Kapitalakkumulation auf seinem eigenen Territorium stattfindet („Standortkonkurrenz“.)
→ Permanenter nationalstaatlicher Wettbewerb um die Anlockung von Kapitalakkumulation
Dies bedeutet einerseits, dass die inneren Verhältnisse an diesem Wettbewerb angepasst werden (Abbau von sozialen Rechten, direkte Stärkung des eigenen Standortes), andererseits auch, dass die äußere Welt nach dem neoliberalen Prinzip versucht wird zu strukturieren. So versuchen speziell die USA, andere Staaten unter finanzielle Druckmitteln hinter die neoliberale Fahne zu vereinigen, damit sie in äußeren Sphären fremde Ressourcen erwerben kann (durch den Prozess der Akkumulation der Enteignung). Oder anders ausgedrückt: Das neoliberale Zentrum kann die Peripherie dann am Besten ausbeuten, wenn diese selbst ein neoliberales Wirtschaftsmodell angenommen hat.
Bsp. für direkten Imperialismus:
- Chile 1973 durch CIA-Putsch gegen Allende
- Irak 2003 durch den gewaltsamen Sturz Husseins
- Libyen 2011 durch die militärische Intervention in einem laufenden Bürgerkrieg
Bsp. für indirekten Imperialismus:
- Bsp. Mexiko
Eine neue antiimperialistische Strategie muss sich zunehmend zwischen den Fronten stellen. Der klassische Konflikt der politischen Linken zwischen Verbreitung von Menschenrechten und Sicherung des Friedens muss im Falle Libyens so gelöst werden, dass der militärische Angriff der NATO-Staaten nicht kritisiert werden kann, ohne das libysche Regime zu kritisieren.
3 Phasen des US-Imperialismus
Harvey unterschiedet zwischen drei verschiedenen Formen US-imperialistischer Tätigkeit:
I.Phase:
Diese Phase hatte ihre Hochzeit bis ca. 1970. Sie ist gekennzeichnet durch eine indirekte Kontrolle anderer Staaten durch Kompradorenregierungen. Die USA geben Präsidenten v.a. von lateinamerikanischen Staaten Finanz- und Militärhilfen, dafür tut dieser, was die US-Regierung von ihm verlangt. Dieses Bündnis gewährleistet die Ausbeutung der betroffenen Staaten durch die Regierung selbst (private Bereicherung) und durch US-amerikanische Konzerne. Es besteht also eine Mischung aus Zwang und Konsens mit irgendeiner oligarchisch herrschenden Gruppe.
Als Paradebeispiele lassen sich Nicaragua unter Präsident Somoza und das damalige Persien unter dem Shah anführen.
Die II.Phase lässt sich von den 70ern bis zu den 90ern datieren. Harvey nennt diese Form den "neoliberalen Imperialismus". Man bedient sich hier der Macht des Finanzkapitals, manifestiert in Organisationen wie der WTO und des IWF. Durch Strukturanpassungsprogramme soll das neoliberale Freihandelsmodell weltweit durchgesetzt werden, d.h. offene Kapitalmärkte, offene Warenmärkte, keine Schranken für ausländische Investitionen etc. Immer, wenn Staaten in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, mussten sich diese an das IWF wenden, um Kredite gewährt zu bekommen. Der IWF gewährt diese Kredite aber nur, wenn die betroffenen Staaten im Gegenzug privatisieren, soziale Leistungen kürzen und ihre Kapitalmärkte liberalisieren, d.h. öffnen.
Paradebeispiel: Der Sturz Allendes in Chile und Ersetzung durch den US-hörigen Faschisten Pinochet. Chile wurde zum Experimentierfeld der Chicagoer Schule, das Modell des neoliberalen Wirtschaftssystems wurde hier zum ersten Mal vollständig durchgeführt (totale Privatisierungen).
Zu beachten ist, dass dies kein exklusiv amerikanisches Modell ist, sondern von anderen zentralen kapitalistischen Mächte wie die EU und Japan unterstützt wird.
Die III.Phase ist die gegenwärtige und wird als "neokonservativer Imperialismus" bezeichnet. Dieser neokonservativer Imperialismus ist nicht in Abgrenzung zum neoliberalen Imperialismus zu sehen, sondern als ihr Bestandteil. Die neokonservative Form des US-Imperialismus kennzeichnet sich nur dadurch, dass es vermehrt versucht, die neoliberale Wirtschaftsordnung mit militärischen Gewaltmaßnahmen und direkten Interventionen durchzusetzen.
Das neokonservative Modell kommt also dort zum Ausdruck, wo sich das neoliberale Modell nicht durch die Druckmittel von IWF und WTO friedlich durchsetzen lässt. Das ist z.B. in Ölstaaten so, die langfristig unabhängig von Finanzhilfen agieren können. So ist das große Interesse der USA an militärischen Interventionen im gesamten Nahen Osten zu erklären. Ölstaaten sind nicht über den IWF zu disziplinieren, sie geraten nicht in Finanzkrisen wie Nicht-Ölstaaten, weshalb das altbewährte Mittel der brachialen Gewalt herhalten muss, um diese Sonderfälle in den liberalisierten Weltmarkt und die neoliberale Weltordnung zu integrieren.
Die Neokonservativen in den USA verheimlichen diese Absicht auch gar nicht. Ihr Ziel ist, im Namen der westlichen Demokratien in der ganzen Region des Nahen Ostens die Freiheit zu verbreiten. Unter Freiheit ist in diesem Fall selbstverständlich nur die Freiheit des Marktes und des Handels zu verstehen. Zitat von G.W.Bush: „Wir haben dem irakischen Volk die Freiheit gebracht, und unsere Vorstellung ist, dem gesamten Mittleren Osten die Freiheit zu bringen.“
Paradebeispiele: Irak, Afghanistan. Das Maßnahmenprojekt für den Irak ist identisch mit dem neoliberalen Modell, welches in Chile bereits verwirklicht worden war.
Diese 3 Phasen des US-Imperialismus greifen selbstverständlich auch ineinander über. Das Konzept der indirekten Kontrolle, also der I.Phase, gilt auch heute noch in einigen Fällen.
Akkumulation durch Enteignung
Das Merkmal des modernen Imperialismus ist die Akkumulation durch Enteignung, was auch die ökonomische Grundlage des neoliberalen Imperialismus bildet. Diese findet statt sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie.
Dabei werden besonders im Zentrum auch funktionierende Ökonomien eines Staates Kredite verwehrt und diese so in Ruin getrieben, sodass das Großkapital als „Retter“ Firmen für geringen Preis aufkaufen kann.
Bsp. für Methoden der Akkumulation durch Enteignung:
- Abbau des Sozialstaates bzw. Wohlfahrtsstaates und sozialer Errungenschaften der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch Privatisierungen öffentlicher Institutionen, Leistungen und Güter
→ Permanente Enteignung der Bevölkerung an ihren Gemeinschaftsgütern
- Amerikanischen Familienbetrieben wurden im Agrarsektor Kredite verweigert und gingen bankrott. Industriell-agrarische Großunternehmen konnten ihre Betriebe sodann übernehmen
→ Enteignung US-amerikanischer Kleinfarmer
- Mexikanische Kleinbauern wirtschafteten bis in die 90er Jahre mit einer auf Gemeinschaftseigentum basierenden Anbaufläche (indigene Kollektivrechte). Als Mexiko in Finanz- und Schuldenkrisen geriet und die IWF um Kreditunterstützung bat, wurde dem mexikanische Staat von der IWF zur Auflage gemacht, dass er das auf Gemeinschaftseigentum basierende Agrarsystem privatisieren muss. D.h., der mexikanische Staat bekam nur Kredite, da er durch die Armee die Kleinbauern um ihr Land enteignet und ihrer traditionellen Rechten beraubt hat, sodass das US-Agrarbusiness sich dort ansiedeln konnte.
In diesem Fall hatte dies massive Aufstandsbewegungen der Zapatisten in Südmexiko zur Folge, welche wiederum von der mexikanischen Armee auf Druck von der USA niedergeschlagen werden musste.
→ Enteignung der mexikanischen Bauen durch den eigenen Staat und seinem Militär auf Druck des US-Kapitals
Harvey unterscheidet zwischen zwei Arten der kapitalistischen Akkumulation:
I.)Erweiterte Reproduktion: „Normaler“ Akkumulationsvorgang, Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, Mehrwert, Rationalisierungen, Investitionen bzw. technische Modernisierungen etc. Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens.
II.)Akkumulation durch Enteignung: Begleitender Akkumulationsfaktor, beruht auf Diebstahl, Betrug und Enteignung. Diesem Akkumulationstyp ist es zu verdanken, dass das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate nicht zum Zusammenbruch des Kapitalismus führt.
In der neoliberalen Phase des Imperialismus nahm der II.Faktor zu, während der I.Faktor -der noch in den 50er und 60er Jahre große Bedeutung hatte- in seiner Bedeutung zumindest für das Zentrum abnahm. Wohlgemerkt handelt es sich bei der II.Phase nur um eine relative Akkumulation. Enteignungen an sich schaffen keine neuen Werte wie die Ausbeutung der Arbeitskraft, sondern verteilt Reichtum, Arbeit und Werte nur um.
→ Polarisierung von Reichtum und Arbeit sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene
→ Anknüpfung an der sg. Ursprünglichen Akkumulation unter Enteignung der Landarbeiter. Die sg. Ursprüngliche Akkumulation hat also nie ein Ende gefunden, sondern besteht bis heute fort.
Schlussfolgerungen:
Der mit dem modernen Imperialismus einhergehende Neoliberalismus ist gekennzeichnet durch eine gigantische Maschinerie der Enteignung (Enteignungsökonomie). Der Enteignungsprozess des Marktes ist als strukturelle Gewalt des heutigen Kapitalismus zu verstehen. Die strukturelle Überakkumulation der Marktwirtschaft lässt sich nur lösen durch eine Erhöhung des Akkumulationpotenzials, also durch Enteignungsprozesse.
Der Staat dient als gewaltsamer Garant des Enteignungsprozesses (Bsp. Agenda 2010, Mexiko)(enge Verflechtung von Kapital und Staat).
Funktion des Staates im modernen Imperialismus:
Schaffung einer Umgebung, in der Akkumulation stattfinden kann. Jeder Staat möchte dabei, dass Kapitalakkumulation auf seinem eigenen Territorium stattfindet („Standortkonkurrenz“.)
→ Permanenter nationalstaatlicher Wettbewerb um die Anlockung von Kapitalakkumulation
Dies bedeutet einerseits, dass die inneren Verhältnisse an diesem Wettbewerb angepasst werden (Abbau von sozialen Rechten, direkte Stärkung des eigenen Standortes), andererseits auch, dass die äußere Welt nach dem neoliberalen Prinzip versucht wird zu strukturieren. So versuchen speziell die USA, andere Staaten unter finanzielle Druckmitteln hinter die neoliberale Fahne zu vereinigen, damit sie in äußeren Sphären fremde Ressourcen erwerben kann (durch den Prozess der Akkumulation der Enteignung). Oder anders ausgedrückt: Das neoliberale Zentrum kann die Peripherie dann am Besten ausbeuten, wenn diese selbst ein neoliberales Wirtschaftsmodell angenommen hat.
Bsp. für direkten Imperialismus:
- Chile 1973 durch CIA-Putsch gegen Allende
- Irak 2003 durch den gewaltsamen Sturz Husseins
- Libyen 2011 durch die militärische Intervention in einem laufenden Bürgerkrieg
Bsp. für indirekten Imperialismus:
- Bsp. Mexiko
Eine neue antiimperialistische Strategie muss sich zunehmend zwischen den Fronten stellen. Der klassische Konflikt der politischen Linken zwischen Verbreitung von Menschenrechten und Sicherung des Friedens muss im Falle Libyens so gelöst werden, dass der militärische Angriff der NATO-Staaten nicht kritisiert werden kann, ohne das libysche Regime zu kritisieren.
Dienstag, 8. März 2011
Robert Owen´s Versuch der Lösung der Sozialen Frage
Robert Owen übernahm 1800 die Leitung einer Baumwollen-Fabrik in New Lanarck. Er besaß eine materialistische Lebensphilosophie, d.h. er war überzeugt, dass die Verhältnisse und der Bildungsstand den Menschen ausmachen und dass eine idealistische Einteilung in gut und schlecht fehlerhaft ist.
Er sah, dass die Arbeiter seiner Fabrik am Existenzminimum lebten, dass sie ausgebeutet wurden und keine Lebensperspektive besaßen. Dies sei schädlich für die gesamte Gesellschaft, und da die Arbeiter den Wohlstand der Gesellschaft produzieren, auch moralisch unverantwortlich. Er trat also für eine moralischere Welt ein und war Vorkämpfer der Gewerkschaften.
Konsequenzen seines Denkens waren soziale Verbesserungen für seine Arbeiter. „Eine allmählich auf 2.500 Köpfe anwachsende, ursprünglich aus den gemischtesten und größtenteils stark demoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung wandelte er um in eine vollständige Musterkolonie, in der Trunkenheit, Polizei, Strafrichter, Prozesse, Armenpflege, Wohltätigkeitsbedürfnis unbekannte Dinge waren. Und zwar einfach dadurch, daß er die Leute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachsende Generation sorgfältig erziehen ließ. Er war der Erfinder der Kleinkinderschulen und führte sie hier zuerst ein. Vom zweiten Lebensjahr an kamen die Kinder in die Schule, wo sie sich so gut unterhielten, daß sie kaum wieder heimzubringen waren. Während seine Konkurrenten 13-14 Stunden täglich arbeiten ließen, wurde in New Lanark nur 101/2 Stunden gearbeitet. Als eine Baumwollkrisis zu viermonatlichem Stillstand zwang, wurde den feiernden Arbeitern der volle Lohn fortbezahlt.“ Sein Ziel, durch Belohnungen und soziale Mindeststandarts das Engagement seiner Arbeiter zu steigern, ging zwar auf, es reichte jedoch nicht aus, um sich gegen die kapitalistische Konkurrenz erfolgreich zu wehren. Andere Kapitalisten wollten sein Sozialkapitalismus nicht übernehmen und setzten auf kurzfristige Gewinne. Owen und seine Arbeiter wurden aus dem Markt gedrängt.
Owen ist mit seinem Projekt einer humaneren Gesellschaft also gescheitert. Dabei war er von seinem Selbstverständlich her nicht irgendein moralischer Kapitalist, sondern Sozialist gewesen ist. Er erkannte die tiefgreifende Dialektik aus Armut und Reichtum durchaus: "die Leute waren meine Sklaven";
"Und doch produzierte der arbeitende Teil dieser 2.500 Menschen ebensoviel wirklichen Reichtum für die Gesellschaft, wie kaum ein halbes Jahrhundert vorher eine Bevölkerung von 600.000 erzeugen konnte. Ich frug mich: Was wird aus der Differenz zwischen dem von 2.500 Personen verzehrten Reichtum und demjenigen, den die 600.000 hätten verzehren müssen?"
Owen war auch in der Politik aktiv. Er hatte ebenso viel Bewunderer, wie er wenig Nacheiferer hatte. Doch da er moralisch richtig handelte, reichte sein Einfluss aus, um soziale Besserungen für Arbeiter auf Gesetzesgrundlage zu bewirken. Bspw. setzte er 1819, nach fünfjähriger Anstrengung, das erste Gesetz zur Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken durch. Er präsidierte dem ersten Kongreß, auf dem die Trades Unions von ganz England sich in eine einzige große Gewerksgenossenschaft vereinigten.
Bis 1823 war Owen Sozialist, d.h. er betrachtete die Kapitalisten und die Regierungen selbst als verantwortlich für die Soziale Frage. Doch als er begann, die Eigentumsfrage zu stellen, wandelte er sich gar zum Kommunisten. Verbannt aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegen von der Presse, verstoßen von den oberen Gesellschaftssichten floh er nach Nordamerika, wo er reine Genossenschaftsbetriebe gründete und die Produktionsmittel im Allgemeineigentum lagen.
Doch auf den Owenschen Kommunismusversuch lastete ein Fluch: Er wollte die Welt vom Kapitalismus befreien, als diese die kapitalistische Entwicklung noch gar nicht vollendet hat.
Diese historische Situation beherrschte auch den Geist Owens. Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen zwangsweise unreife Theorien. Die Lösung der sozialen Missstände, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch z.T. verborgen lag, sollte aus reiner Geisteskraft erzeugt werden. Es handelte sich darum, ein neues, humanes System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuzwingen. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.
Ich mache Robert Owen also keinerlei Vorwürfe. Sich die materialistische Philosophie der französischen Schule anzueignen und die Konsequenzen dieser philosophischen Denkart in die Tat umzusetzen oder umzusetzen zu versuchen, war mehr, als man für Männer der damaligen Zeit erwarten konnte. Dass er letztlich gescheitert ist war nicht Ausdruck seines Unvermögens, sondern der barbarischen Wesensart des Kapitalismus: Sein oder Nichtsein, wo man sich keine Fehltritte und soziale Experimente erlauben darf. Die Bedingungen herauszuarbeiten, inwiefern eine Befreiung vom kapitalistischen Wirtschaftssystem möglich ist und eine humane Gesellschaft zu schaffen ist, blieb 50 jahre später Karl Marx vorbehalten. Das aber nicht, weil Marx geistreicher als Owen gewesen ist, sondern weil erst 50 Jahre später sich der Kapitalismus und die Klassengegensätze genügend entwickelt haben, um diese überhaupt erst formulieren zu können.
Quellen:
Friedrich Engels: "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19
Er sah, dass die Arbeiter seiner Fabrik am Existenzminimum lebten, dass sie ausgebeutet wurden und keine Lebensperspektive besaßen. Dies sei schädlich für die gesamte Gesellschaft, und da die Arbeiter den Wohlstand der Gesellschaft produzieren, auch moralisch unverantwortlich. Er trat also für eine moralischere Welt ein und war Vorkämpfer der Gewerkschaften.
Konsequenzen seines Denkens waren soziale Verbesserungen für seine Arbeiter. „Eine allmählich auf 2.500 Köpfe anwachsende, ursprünglich aus den gemischtesten und größtenteils stark demoralisierten Elementen sich zusammensetzende Bevölkerung wandelte er um in eine vollständige Musterkolonie, in der Trunkenheit, Polizei, Strafrichter, Prozesse, Armenpflege, Wohltätigkeitsbedürfnis unbekannte Dinge waren. Und zwar einfach dadurch, daß er die Leute in menschenwürdigere Umstände versetzte und namentlich die heranwachsende Generation sorgfältig erziehen ließ. Er war der Erfinder der Kleinkinderschulen und führte sie hier zuerst ein. Vom zweiten Lebensjahr an kamen die Kinder in die Schule, wo sie sich so gut unterhielten, daß sie kaum wieder heimzubringen waren. Während seine Konkurrenten 13-14 Stunden täglich arbeiten ließen, wurde in New Lanark nur 101/2 Stunden gearbeitet. Als eine Baumwollkrisis zu viermonatlichem Stillstand zwang, wurde den feiernden Arbeitern der volle Lohn fortbezahlt.“ Sein Ziel, durch Belohnungen und soziale Mindeststandarts das Engagement seiner Arbeiter zu steigern, ging zwar auf, es reichte jedoch nicht aus, um sich gegen die kapitalistische Konkurrenz erfolgreich zu wehren. Andere Kapitalisten wollten sein Sozialkapitalismus nicht übernehmen und setzten auf kurzfristige Gewinne. Owen und seine Arbeiter wurden aus dem Markt gedrängt.
Owen ist mit seinem Projekt einer humaneren Gesellschaft also gescheitert. Dabei war er von seinem Selbstverständlich her nicht irgendein moralischer Kapitalist, sondern Sozialist gewesen ist. Er erkannte die tiefgreifende Dialektik aus Armut und Reichtum durchaus: "die Leute waren meine Sklaven";
"Und doch produzierte der arbeitende Teil dieser 2.500 Menschen ebensoviel wirklichen Reichtum für die Gesellschaft, wie kaum ein halbes Jahrhundert vorher eine Bevölkerung von 600.000 erzeugen konnte. Ich frug mich: Was wird aus der Differenz zwischen dem von 2.500 Personen verzehrten Reichtum und demjenigen, den die 600.000 hätten verzehren müssen?"
Owen war auch in der Politik aktiv. Er hatte ebenso viel Bewunderer, wie er wenig Nacheiferer hatte. Doch da er moralisch richtig handelte, reichte sein Einfluss aus, um soziale Besserungen für Arbeiter auf Gesetzesgrundlage zu bewirken. Bspw. setzte er 1819, nach fünfjähriger Anstrengung, das erste Gesetz zur Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken durch. Er präsidierte dem ersten Kongreß, auf dem die Trades Unions von ganz England sich in eine einzige große Gewerksgenossenschaft vereinigten.
Bis 1823 war Owen Sozialist, d.h. er betrachtete die Kapitalisten und die Regierungen selbst als verantwortlich für die Soziale Frage. Doch als er begann, die Eigentumsfrage zu stellen, wandelte er sich gar zum Kommunisten. Verbannt aus der offiziellen Gesellschaft, totgeschwiegen von der Presse, verstoßen von den oberen Gesellschaftssichten floh er nach Nordamerika, wo er reine Genossenschaftsbetriebe gründete und die Produktionsmittel im Allgemeineigentum lagen.
Doch auf den Owenschen Kommunismusversuch lastete ein Fluch: Er wollte die Welt vom Kapitalismus befreien, als diese die kapitalistische Entwicklung noch gar nicht vollendet hat.
Diese historische Situation beherrschte auch den Geist Owens. Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen zwangsweise unreife Theorien. Die Lösung der sozialen Missstände, die in den unentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch z.T. verborgen lag, sollte aus reiner Geisteskraft erzeugt werden. Es handelte sich darum, ein neues, humanes System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuzwingen. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen.
Ich mache Robert Owen also keinerlei Vorwürfe. Sich die materialistische Philosophie der französischen Schule anzueignen und die Konsequenzen dieser philosophischen Denkart in die Tat umzusetzen oder umzusetzen zu versuchen, war mehr, als man für Männer der damaligen Zeit erwarten konnte. Dass er letztlich gescheitert ist war nicht Ausdruck seines Unvermögens, sondern der barbarischen Wesensart des Kapitalismus: Sein oder Nichtsein, wo man sich keine Fehltritte und soziale Experimente erlauben darf. Die Bedingungen herauszuarbeiten, inwiefern eine Befreiung vom kapitalistischen Wirtschaftssystem möglich ist und eine humane Gesellschaft zu schaffen ist, blieb 50 jahre später Karl Marx vorbehalten. Das aber nicht, weil Marx geistreicher als Owen gewesen ist, sondern weil erst 50 Jahre später sich der Kapitalismus und die Klassengegensätze genügend entwickelt haben, um diese überhaupt erst formulieren zu können.
Quellen:
Friedrich Engels: "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19
Donnerstag, 10. Februar 2011
Emanzipation der Frau in der Deutschen Demokratischen Republik
Anspruch und Wirklichkeit der emanzipatorischen Stellung der Frau im Realsozialismus
Fortschritte in der Theorie
- Marxistische Theorie nach Bebel: Frauenfrage ein Teil der Sozialen Frage
- Verfassung der DDR vom Mai 1949
→ Gleichberechtigung von Mann und Frau: „Artikel 7 der Verfassung von 1949 legte fest: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenwirken, sind aufgehoben."
→ Frauen haben Recht auf Arbeit, gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und Recht auf Bildung
- staatlichen Schutz der Mutterschaft
- gemeinsame Verantwortung für Mann und Frau bei der Erziehung des Kindes und bei der Hausarbeit
- Nichterwerbstätigkeit als Hauptfaktor ihrer Unterdrückung
→ Einbeziehung der Frau in die Arbeitswelt
Stagnation in der Praxis
- Für Frauen selbst erschien das Familienleben bzw. die traditionelle Rolle der Frau hinter dem Herd wichtiger als die Erwerbstätigkeit
→ Rückstände vom reaktionären Frauenbild der NS-Ideologie
- Leitbild: Frau mit Facharbeiter-, Fachschul-, oder Hochschulabschluss, welche die Doppelbelastung als Mutter glänzend beständen
→ Ausschluss von Hausfrauen und kinderlosen Frauen
- Nicht die Frau selbst, sondern der Staat übernahm die Verantwortung für die Emanzipation der Frau
- Männer bestimmten z.T. das Leitbild der Frau: Für Frauen galt das erstrebenswert, was die Männer schon erreicht hatten
→ fehlende Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Frau
- Höhere Funktionen in Verbänden und Parteien blieben männerdominiert
- Frauen trugen eine dreifachbelastung: Arbeit, Mutterschaft, öffentliches Engagement in der Partei und anderen gesellschaftlichen Organisationen
Die Frau in Familie, Partnerschaft und Ehe
- Konservatives Familienleitbild: Familie mit verheiratetem Paar und 2-3 Kindern als Idealfall
→ in Relation zur BRD frühe Eheschließungen, weil Ehepaare bei Wohnungsvergaben bevorzugt wurden
- Durch Kinderbetreuungseinrichtungen und Haushaltshilfen wurden Frauen während der Mutterschaft massiv vom Staat entlastet, sodass sie für lediglich ein Jahr mit der Erwerbstätigkeit aussetzen mussten. Weitere Entlastungen waren:
→ Geburtenbeihilfen
→ bezahltes Babyjahr bei Fortdauer der Betriebszugehörigkeit
→ zinsloses Familiengründungsdarlehen (bei 8jähriger Tilgungsfrist und bei Geburt eines Kindes wurden 1000 Mark erlassen, beim zweiten 1500 Mark und beim dritten 2500 Mark, ingesamt also bis zu 5000 Mark)
→ Kindergeld
→ Ausbildungsbeihilfen
- Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau auch in der Hausarbeit hing größtenteils vom Bildungsstand der Individuen ab
- Umfrage 1982: Für 60% der Frauen mittlerer Jahrgänge haben Arbeit und Familie diesselbe Bedeutung
- Hohe Scheidungsrate aufgrund finanzielle Unabhängigkeit der Frauen
- Verpflichtung der Väter zum Unterhalt des Kinders – unabhängig davon, ob das Kind ehelich oder unehelich geboren wurde
- Soziale Hilfen des Staates für alleinerziehende Mütter
→ bevorzugte Kinderkrippenplätze
→ Finanzausgleich bei Krankheit des Kindes
- Familiengesetzbuch der DDR von 1966: Ehegatte wird aufgefordert, ihre Beziehungen zueinander so zu gestalten, dass „die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche mit der Mutterschaft vereinbaren kann“
Die Frau in der Arbeitswelt
- Integration möglichst vieler Frauen in die Arbeitswelt als wichtigster Schritt auf dem Weg der Gleichberechtigung
→ ökonomische Unabhängigkeit als Garant ihrer Befreiung von der „Sklaverei“ der Hausarbeit
- Ebenso sollten Frauen durch Erwerbstätigkeit dazu beitragen, die Produktivität des Landes zu steigern und damit die Deutsche Demokratische Republik aufzubauen und zu stabilisieren
- 1989 waren 91,2% der Frauen berufstätig
- verschwindend geringer Anteil der Frauen in Leitungspositionen
→ Frauen verdienen 25%-30% weniger wie Männer (Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit)
→ rest-patriarchalische Gesellschaftsstruktur
→ Mutterschaft wirkt sich trotz staatlicher Hilfen noch immer unterbrechend auf ihre Karriere aus
- Während Jungs meist Ausbildung in der Industrie machten, bevorzugten Mädchen die Pädagogik, die Medizin oder den Handel
- Staat regulierte den Geschlechteranteil bei der Lehrstellen-Vergabe
- Betriebe und Kombinate begründeten ihr Interesse nach männerdominierten Arbeitsbereichen wie folgt:
→ Ausfallquote und Fluktuation seien bei Frauen durch Mutterschaft größer
→ Übertreffen der physischen Anforderungen an die Mädchen
→ nicht genügend technisches Interesse seitens der Mädchen
Politische Partizipation der Frau
- Allgemeine Einschränkung der Möglichkeiten zur politischen Partizipation an gesellschaftlich relevanten Themen führt logischerweise auch zu einer Einschränkung der politischen Partizipationsmöglichkeiten der Frau
- SED stellte Posten einer „Frauenbeauftragten“ zur Verfügung
- Frauenquote beim Zentralkomitee der SED nur bei ~15%, und dann nur als Organisationsspezialisten
- betriebliche Frauenausschüsse beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund sollten Mutterschaft und Beruf vereinbaren zu helfen
- Der 1947 gegründete Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) war eine Frauen- und Massenorganisation und Mitglied der Nationalen Front, welche sich für die Verwirklichung des verfassungstechnischen Auftrag zur Gleichberechtigung einsetzen sollte sowie verantwortlich war für die Werbung und Mobilisierung zur Berufstätigkeit
→ "Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" vom 27. September 1950 wurde vom DFD ausgearbeitet und stellte die Grundlage für die Verwirklichung des Gleichberechtigungs-Anspruch zwischen Mann und Frau in der Verfassung
→ Auf Betreiben des DFD entstanden ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Frauenakademien und Frauensonderklassen in vielen Bildungseinrichtungen
→ In den 1970er Jahren organisierte der DFD in Bezirks- und Kreisstädten über 200 „Beratungszentren für Haushalt und Familie“, die sich rasch zur praxisorientierten Beratung für Ehe, Haushalt und Säuglingspflege entwickelten
Fazit
Die Rolle der Frau im sozialistischen Ostdeutschland muss ambivalent betrachtet werden:
- Die DDR hatte die Forderungen von Marx, Engels und Bebel in Sachen Frauenemanzipation übernommen und vieles in Ansätzen verwirklicht
- Die Einrichtung von flächendeckenden und staatlich subventionierten Kinderbetreuungseinrichtungen erleichterten den Frauen den Alltag im Sozialismus enorm und dienen heute progressiven Parteien im Bundestag als Vorbild auch für Gesamtdeutschland
- Die Eingliederung der Frau in den gesellschaftlich organisierten Arbeitsprozeß zum Ziel der Unabhängigkeit der Frau (Marx/ Engels, Bebel) war in der DDR im großen und ganzen vollzogen
- Seit den 50er Jahren wurden immer mehr Frauen berufstätig und dadurch finanziell unabhängiger von ihren Männern, was u. a. an der hohen Scheidungsrate abzulesen ist
- Zur Erleichterung bei Hausarbeit und Kindererziehung (Marx/ Engels, Bebel) standen Haushaltshilfen und Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung. Mutter und Kind blieben so meist nur 1 Jahr nach der Geburt im Hause
- Die Gleichheit von Mann und Frau von Gesetzes wegen, wie sie bereits August Bebel gefordert, war in der Verfassung der DDR konstatiert
- Die "Ebenbürtigkeit von Mann und Frau in der geistigen Ausbildung" (Bebel) hatte die DDR theoretisch ebenfalls erreicht. Seit den 60er Jahren fand die Verstärkung der Qualifikation von Frauen (Facharbeiterin, Fachschul- oder Hochschulstudium) statt
- Es resultierte daraus eine Grundqualifikation in Bildung und Beruf von ca. 50:50 zwischen Mann und Frau
Allerdings gab es auch Stagnationen in der Frauenemanzipation und der Frauenfrage:
- So verdienten Frauen im Durchschnitt weniger und waren sehr selten in leitenden Positionen vertreten
- Es gab in der DDR ähnlich frauentypische Berufe wie in der BRD
- Die staatlich aufgezwungene Emanzipation, die nicht von den Frauen selbst ausging
- Das durch die gesamte Gesellschaft noch immer vorherrschende patriarchalische Weltbild (auch die SED als Avantgarde war nicht besser wie der restliche Bevölkerungsteil der DDR)
- Der Vergleich der Leistungen der Frau mit den bereits erreichten des Mannes und der daraus resultierenden fehlenden Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Frau
- Innerhalb der begrenzten politischen Partizipationsmöglichkeiten von DDR-BürgerInnen wurde der Frauenorganisation DFD nur ein gewisses "Mitsprache- und Mitwirkungsrecht" zuerkannt
Insgesamt ist die Rolle der Frau in der DDR fortschrittlicher als dies zur selben Zeit in Westdeutschland der Fall gewesen ist, wo die Frau sich erst nach der Studentenrevolution von 1968 Gehör verschaffen konnte. Die ebenfalls vorhandene Stagnation der Frauenemanzipation im Osten ist auf das autoritär-repressive politische System der DDR in Verbindung mit dem permanenten Strukturkonservativismus im ZK der SED zurückzuführen.
Quellen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratischer_Frauenbund_Deutschlands
http://www.emanzipation-im-sozialismus.de/
http://www2.hu-berlin.de/sexology/ATLAS_DE/html/die_frauenbewegung_in_deutschl.html
http://www.bpb.de/themen/T1TEYR,0,0,Auferstanden_aus_Ruinen.html
Information zur politischen Bildung: Frauenbewegung
Fortschritte in der Theorie
- Marxistische Theorie nach Bebel: Frauenfrage ein Teil der Sozialen Frage
- Verfassung der DDR vom Mai 1949
→ Gleichberechtigung von Mann und Frau: „Artikel 7 der Verfassung von 1949 legte fest: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenwirken, sind aufgehoben."
→ Frauen haben Recht auf Arbeit, gleichen Lohn bei gleicher Arbeit und Recht auf Bildung
- staatlichen Schutz der Mutterschaft
- gemeinsame Verantwortung für Mann und Frau bei der Erziehung des Kindes und bei der Hausarbeit
- Nichterwerbstätigkeit als Hauptfaktor ihrer Unterdrückung
→ Einbeziehung der Frau in die Arbeitswelt
Stagnation in der Praxis
- Für Frauen selbst erschien das Familienleben bzw. die traditionelle Rolle der Frau hinter dem Herd wichtiger als die Erwerbstätigkeit
→ Rückstände vom reaktionären Frauenbild der NS-Ideologie
- Leitbild: Frau mit Facharbeiter-, Fachschul-, oder Hochschulabschluss, welche die Doppelbelastung als Mutter glänzend beständen
→ Ausschluss von Hausfrauen und kinderlosen Frauen
- Nicht die Frau selbst, sondern der Staat übernahm die Verantwortung für die Emanzipation der Frau
- Männer bestimmten z.T. das Leitbild der Frau: Für Frauen galt das erstrebenswert, was die Männer schon erreicht hatten
→ fehlende Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Frau
- Höhere Funktionen in Verbänden und Parteien blieben männerdominiert
- Frauen trugen eine dreifachbelastung: Arbeit, Mutterschaft, öffentliches Engagement in der Partei und anderen gesellschaftlichen Organisationen
Die Frau in Familie, Partnerschaft und Ehe
- Konservatives Familienleitbild: Familie mit verheiratetem Paar und 2-3 Kindern als Idealfall
→ in Relation zur BRD frühe Eheschließungen, weil Ehepaare bei Wohnungsvergaben bevorzugt wurden
- Durch Kinderbetreuungseinrichtungen und Haushaltshilfen wurden Frauen während der Mutterschaft massiv vom Staat entlastet, sodass sie für lediglich ein Jahr mit der Erwerbstätigkeit aussetzen mussten. Weitere Entlastungen waren:
→ Geburtenbeihilfen
→ bezahltes Babyjahr bei Fortdauer der Betriebszugehörigkeit
→ zinsloses Familiengründungsdarlehen (bei 8jähriger Tilgungsfrist und bei Geburt eines Kindes wurden 1000 Mark erlassen, beim zweiten 1500 Mark und beim dritten 2500 Mark, ingesamt also bis zu 5000 Mark)
→ Kindergeld
→ Ausbildungsbeihilfen
- Verwirklichung der Gleichberechtigung von Mann und Frau auch in der Hausarbeit hing größtenteils vom Bildungsstand der Individuen ab
- Umfrage 1982: Für 60% der Frauen mittlerer Jahrgänge haben Arbeit und Familie diesselbe Bedeutung
- Hohe Scheidungsrate aufgrund finanzielle Unabhängigkeit der Frauen
- Verpflichtung der Väter zum Unterhalt des Kinders – unabhängig davon, ob das Kind ehelich oder unehelich geboren wurde
- Soziale Hilfen des Staates für alleinerziehende Mütter
→ bevorzugte Kinderkrippenplätze
→ Finanzausgleich bei Krankheit des Kindes
- Familiengesetzbuch der DDR von 1966: Ehegatte wird aufgefordert, ihre Beziehungen zueinander so zu gestalten, dass „die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche mit der Mutterschaft vereinbaren kann“
Die Frau in der Arbeitswelt
- Integration möglichst vieler Frauen in die Arbeitswelt als wichtigster Schritt auf dem Weg der Gleichberechtigung
→ ökonomische Unabhängigkeit als Garant ihrer Befreiung von der „Sklaverei“ der Hausarbeit
- Ebenso sollten Frauen durch Erwerbstätigkeit dazu beitragen, die Produktivität des Landes zu steigern und damit die Deutsche Demokratische Republik aufzubauen und zu stabilisieren
- 1989 waren 91,2% der Frauen berufstätig
- verschwindend geringer Anteil der Frauen in Leitungspositionen
→ Frauen verdienen 25%-30% weniger wie Männer (Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit)
→ rest-patriarchalische Gesellschaftsstruktur
→ Mutterschaft wirkt sich trotz staatlicher Hilfen noch immer unterbrechend auf ihre Karriere aus
- Während Jungs meist Ausbildung in der Industrie machten, bevorzugten Mädchen die Pädagogik, die Medizin oder den Handel
- Staat regulierte den Geschlechteranteil bei der Lehrstellen-Vergabe
- Betriebe und Kombinate begründeten ihr Interesse nach männerdominierten Arbeitsbereichen wie folgt:
→ Ausfallquote und Fluktuation seien bei Frauen durch Mutterschaft größer
→ Übertreffen der physischen Anforderungen an die Mädchen
→ nicht genügend technisches Interesse seitens der Mädchen
Politische Partizipation der Frau
- Allgemeine Einschränkung der Möglichkeiten zur politischen Partizipation an gesellschaftlich relevanten Themen führt logischerweise auch zu einer Einschränkung der politischen Partizipationsmöglichkeiten der Frau
- SED stellte Posten einer „Frauenbeauftragten“ zur Verfügung
- Frauenquote beim Zentralkomitee der SED nur bei ~15%, und dann nur als Organisationsspezialisten
- betriebliche Frauenausschüsse beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund sollten Mutterschaft und Beruf vereinbaren zu helfen
- Der 1947 gegründete Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) war eine Frauen- und Massenorganisation und Mitglied der Nationalen Front, welche sich für die Verwirklichung des verfassungstechnischen Auftrag zur Gleichberechtigung einsetzen sollte sowie verantwortlich war für die Werbung und Mobilisierung zur Berufstätigkeit
→ "Gesetzes über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" vom 27. September 1950 wurde vom DFD ausgearbeitet und stellte die Grundlage für die Verwirklichung des Gleichberechtigungs-Anspruch zwischen Mann und Frau in der Verfassung
→ Auf Betreiben des DFD entstanden ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Frauenakademien und Frauensonderklassen in vielen Bildungseinrichtungen
→ In den 1970er Jahren organisierte der DFD in Bezirks- und Kreisstädten über 200 „Beratungszentren für Haushalt und Familie“, die sich rasch zur praxisorientierten Beratung für Ehe, Haushalt und Säuglingspflege entwickelten
Fazit
Die Rolle der Frau im sozialistischen Ostdeutschland muss ambivalent betrachtet werden:
- Die DDR hatte die Forderungen von Marx, Engels und Bebel in Sachen Frauenemanzipation übernommen und vieles in Ansätzen verwirklicht
- Die Einrichtung von flächendeckenden und staatlich subventionierten Kinderbetreuungseinrichtungen erleichterten den Frauen den Alltag im Sozialismus enorm und dienen heute progressiven Parteien im Bundestag als Vorbild auch für Gesamtdeutschland
- Die Eingliederung der Frau in den gesellschaftlich organisierten Arbeitsprozeß zum Ziel der Unabhängigkeit der Frau (Marx/ Engels, Bebel) war in der DDR im großen und ganzen vollzogen
- Seit den 50er Jahren wurden immer mehr Frauen berufstätig und dadurch finanziell unabhängiger von ihren Männern, was u. a. an der hohen Scheidungsrate abzulesen ist
- Zur Erleichterung bei Hausarbeit und Kindererziehung (Marx/ Engels, Bebel) standen Haushaltshilfen und Kinderbetreuungseinrichtungen zur Verfügung. Mutter und Kind blieben so meist nur 1 Jahr nach der Geburt im Hause
- Die Gleichheit von Mann und Frau von Gesetzes wegen, wie sie bereits August Bebel gefordert, war in der Verfassung der DDR konstatiert
- Die "Ebenbürtigkeit von Mann und Frau in der geistigen Ausbildung" (Bebel) hatte die DDR theoretisch ebenfalls erreicht. Seit den 60er Jahren fand die Verstärkung der Qualifikation von Frauen (Facharbeiterin, Fachschul- oder Hochschulstudium) statt
- Es resultierte daraus eine Grundqualifikation in Bildung und Beruf von ca. 50:50 zwischen Mann und Frau
Allerdings gab es auch Stagnationen in der Frauenemanzipation und der Frauenfrage:
- So verdienten Frauen im Durchschnitt weniger und waren sehr selten in leitenden Positionen vertreten
- Es gab in der DDR ähnlich frauentypische Berufe wie in der BRD
- Die staatlich aufgezwungene Emanzipation, die nicht von den Frauen selbst ausging
- Das durch die gesamte Gesellschaft noch immer vorherrschende patriarchalische Weltbild (auch die SED als Avantgarde war nicht besser wie der restliche Bevölkerungsteil der DDR)
- Der Vergleich der Leistungen der Frau mit den bereits erreichten des Mannes und der daraus resultierenden fehlenden Möglichkeit zur Selbstverwirklichung der Frau
- Innerhalb der begrenzten politischen Partizipationsmöglichkeiten von DDR-BürgerInnen wurde der Frauenorganisation DFD nur ein gewisses "Mitsprache- und Mitwirkungsrecht" zuerkannt
Insgesamt ist die Rolle der Frau in der DDR fortschrittlicher als dies zur selben Zeit in Westdeutschland der Fall gewesen ist, wo die Frau sich erst nach der Studentenrevolution von 1968 Gehör verschaffen konnte. Die ebenfalls vorhandene Stagnation der Frauenemanzipation im Osten ist auf das autoritär-repressive politische System der DDR in Verbindung mit dem permanenten Strukturkonservativismus im ZK der SED zurückzuführen.
Quellen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratischer_Frauenbund_Deutschlands
http://www.emanzipation-im-sozialismus.de/
http://www2.hu-berlin.de/sexology/ATLAS_DE/html/die_frauenbewegung_in_deutschl.html
http://www.bpb.de/themen/T1TEYR,0,0,Auferstanden_aus_Ruinen.html
Information zur politischen Bildung: Frauenbewegung
Sonntag, 9. Januar 2011
Von der Pest zur Cholera
Ein Statement zur deutschen Wiedervereinigung
Im Folgenden möchte ich ein Statement abgeben zu den Veränderungen der Jahre 1989/90 und dessen Folgen. Mir erscheint es notwendig, den Verlauf der Wendezeit kurz zu rekapitulieren, um mich danach mit den Meinungen der vier Autoren Stern, Kocka, Schulze und Winkler auseinandersetzen zu können, dessen Folgerungen sich allesamt so zusammenfassen lassen: Erstmals in der deutschen Geschichte sei (nicht näher definierte) Freiheit und nationale Einheit erreicht, Deutschland stehe an einen historischen Wendepunkt.
Die Ereignisse vom 09.November 1989 und 03.Oktober 1990 sind zentrale Bestandteile der neueren deutschen Geschichte, vergleichbar nur mit dem 08.Mai 1945, dem 30.Januar 1933 oder dem 11.November 1918.
Doch im Gegensatz zu den vorherigen zentralen Daten basieren die Ereignisse der Wendezeit auf einer Implosion, nicht auf einer Explosion. Die Revolution begann auf den Straßen ostdeutscher Großstädte, dessen Ursache vorrangig auf innenpolitische Missstände der DDR zurückzuführen ist. Der gesamte Prozess war ein objektiver Klassenkampf; das Volk revoltierte anfangs gegen die bürokratische Staatselite der sozialistischen Kaderpartei, das Ziel war ein sg. „demokratischer Sozialismus“ und kann durchaus im Vergleich zur klassischen Einparteiendiktatur als fortschrittlich bezeichnet werden. Die Restauration des Kapitalismus war anfangs nicht Intention der rebellierenden Massen. Dies spiegelt sich in der bestimmenden Parole „Wir sind das Volk“ wider. Von den ökologisch, demokratisch und pazifistisch auftretenden Akteuren, die bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 und 1989 im „Neuen Forum“, in der Gruppe „Demokratie jetzt“, im „Demokratischen Aufbruch“, in der Gründungsgruppe der Grünen Partei sowie der Sozialdemokratischen Partei in Ostdeutschland in Erscheinung traten, waren nationalistische und prokapitalistische Absichten nie formuliert worden. Sie gingen vom Fortbestand der Deutschen Demokratischen Republik und des sozialistischen Eigentums aus, allerdings verwaltet durch veränderte (nämlich demokratisierte) politische Bedingungen.
Der Übergang von Revolution zu Konterrevolution kennzeichnet wiederum die Parole „Wir sind ein Volk“. Ziel war nicht mehr die politische Emanzipation des menschlichen Individuums, sondern die nationale Einheit Deutschlands unter kapitalistischer Verhältnisse, also eine Forderung, die in der Vergangenheit bereits erfüllt gewesen ist. Die Revolte war rückwärtsgewand, die Initiative und Kontrolle der Ereignisse von 1989/90 ging von den Straßen ostdeutscher Großstädte auf den westdeutschen Regierungssitz in Bonn über. Exogene Faktoren bestimmten nun die Geschehnisse in Ostdeutschland, die Revolution ist somit gescheitert. Der Klassenkampf änderte seine Richtung: Es lag nun in der Hand der Bourgeoisie die sozialen Errungenschaften im Osten zu bekämpfen und ihre 1945 verloren gegangene Herrschaft wieder zu erlangen. Es ist bezeichnend, dass der 09.November, welcher eigentlich als Unglücksdatum in das Gedächtnis der Deutschen für ewig eingebrannt sein müsste, heute wieder fröhlich gefeiert und gewürdigt wird.
Liest man Stellungnahmen über die Bedeutung der Jahre 1989ff von in ihren Fachbereich bekannten Persönlichkeiten, so erkennt man nicht viele Unterschiede in ihren Meinungen. Stern, Kocka, Schulze, Winkler – alle preisen diese Jahre nicht unvoreingenommen als Befreiungsschlag, Erlösung, Endsieg liberaldemokratischer Ideen (Stern und Kocka) sogar als engültiger Wendepunkt der deutschen Geschichte, der Abschluss der bisherigen deutschen Geschichte und ein historischer Neubeginn (Schulze), der Sieg des „Lebensgefühls gegen Staatsdoktrination“ (Winkler).
Doch wie sieht die historische Wahrheit aus? Sind Anspruch und Wirklichkeit dieser westlichen Analytiker wirklich identisch? Sicherlich, es wurde Freiheit errungen. Aber die Errungenschaften von 1989/90 beschränkten sich auf typisch bürgerliche Freiheiten. Es folgte der Verlust der sozialen Freiheit zugunsten der rechtlichen Freiheit. Es ging nicht nur der abstrakte Traum vieler Sozialisten aller Art verloren, dass eine bessere Welt bzw. ein besseres Deutschland möglich sei, sondern auch ganz konkret ließ die errungene rechtliche Freiheit seinen Preis spüren: Totale Enteignung der ostdeutschen Bevölkerung, Deindustrialisierung Ostdeutschlands, Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitslosigkeit, weniger Lohn bei gleicher Arbeit, der Verlust sozialer Sicherheit, Rentenungleichheit, Abbau sozialer und kultureller Einrichtungen, eine Mehrklassenmedizin. Mit der Restauration des Kapitalismus in Ostdeutschland ging das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf gleiche Bildungschancen, auf medizinische Betreuung, soziale Sicherheit bei Krankheit und im Alter verloren.
Die deutsche Bevölkerung ist auf gefährliche Wahlkampfversprechungen hereingefallen, hat den Lügen von den »blühenden Landschaften« geglaubt, dem Gerede, dass es »keinem schlechter, aber vielen besser gehen wird«. Die Konsequenz war, dass Freiheit de jury wirklich wiederhergestellt worden war, aber Freiheit vorallem in der Wirtschaft, sodass de facto Freiheit in der postrealsozialistischen Ära wieder identisch ist mit Reichtum.
„Vollzogen hat sich der Übergang von der Herrschaft der Politbürokratie zur Herrschaft des großen Kapitals. Letztere ist nicht weniger total als die erstere. In Wirklichkeit war es der historische Rückweg von einem, wenn auch gescheiterten, weil deformierten, inkonsequenten Versuch qualitativen sozialen Fortschritts, zu dem gesellschaftlichen Zustand davor, der diesen Versuch notwendig und möglich gemacht hat.“ (Heinz Kallabis in: "Was war die DDR?")
Letztlich war dieses Moment der „Freiheit in Einigkeit“ nichts als ein weiterer Sturz der Deutschen in einen historischen Abgrund, welcher einmal mehr in einer Katastrophe mündete.
Doch die eigentliche Ironie der Geschichte liegt darin, dass das Marx´sche Ziel der Herrschaftsfreiheit in der klassenlosen Gesellschaft, insbesondere in Ostdeutschland 1949-1989, zur weltanschaulichen Legitimation eines Gesellschaftssystems beitragen konnte, das sich zur eigenen Stabilisierung wesentlich auf bürokratisch-staatliche Herrschaft stützen sollte.
Das Scheitern des 3. Sozialismusversuches -nach den ersten kommunistisch organisierten Betrieben in den Kolonien Nordamerikas durch Robert Owen Anfang des 19. Jh und der Pariser Kommune von 1871- eröffnet aber gleichzeitig Perspektiven. Moderne Sozialisten können wieder selbst denken – unabhängig von dem Einfluss der dogmatischen Rechtfertigungsideologie des von Stalin pervertierten Marxismus-Leninismus, unter dessen Klauen die DDR von Anfang bis Ende zu leiden hatte. Die Wende bietet also eine Chance zu einer neuen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Schriften von Karl Marx und dessen mögliche Aktualität zu heutigen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse im vereinten Deutschland des 21. Jh. Die Zukunft wird zeigen, ob man aus geschichtlichen Erfahrungen lernen kann und wird.
Im Folgenden möchte ich ein Statement abgeben zu den Veränderungen der Jahre 1989/90 und dessen Folgen. Mir erscheint es notwendig, den Verlauf der Wendezeit kurz zu rekapitulieren, um mich danach mit den Meinungen der vier Autoren Stern, Kocka, Schulze und Winkler auseinandersetzen zu können, dessen Folgerungen sich allesamt so zusammenfassen lassen: Erstmals in der deutschen Geschichte sei (nicht näher definierte) Freiheit und nationale Einheit erreicht, Deutschland stehe an einen historischen Wendepunkt.
Die Ereignisse vom 09.November 1989 und 03.Oktober 1990 sind zentrale Bestandteile der neueren deutschen Geschichte, vergleichbar nur mit dem 08.Mai 1945, dem 30.Januar 1933 oder dem 11.November 1918.
Doch im Gegensatz zu den vorherigen zentralen Daten basieren die Ereignisse der Wendezeit auf einer Implosion, nicht auf einer Explosion. Die Revolution begann auf den Straßen ostdeutscher Großstädte, dessen Ursache vorrangig auf innenpolitische Missstände der DDR zurückzuführen ist. Der gesamte Prozess war ein objektiver Klassenkampf; das Volk revoltierte anfangs gegen die bürokratische Staatselite der sozialistischen Kaderpartei, das Ziel war ein sg. „demokratischer Sozialismus“ und kann durchaus im Vergleich zur klassischen Einparteiendiktatur als fortschrittlich bezeichnet werden. Die Restauration des Kapitalismus war anfangs nicht Intention der rebellierenden Massen. Dies spiegelt sich in der bestimmenden Parole „Wir sind das Volk“ wider. Von den ökologisch, demokratisch und pazifistisch auftretenden Akteuren, die bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 und 1989 im „Neuen Forum“, in der Gruppe „Demokratie jetzt“, im „Demokratischen Aufbruch“, in der Gründungsgruppe der Grünen Partei sowie der Sozialdemokratischen Partei in Ostdeutschland in Erscheinung traten, waren nationalistische und prokapitalistische Absichten nie formuliert worden. Sie gingen vom Fortbestand der Deutschen Demokratischen Republik und des sozialistischen Eigentums aus, allerdings verwaltet durch veränderte (nämlich demokratisierte) politische Bedingungen.
Der Übergang von Revolution zu Konterrevolution kennzeichnet wiederum die Parole „Wir sind ein Volk“. Ziel war nicht mehr die politische Emanzipation des menschlichen Individuums, sondern die nationale Einheit Deutschlands unter kapitalistischer Verhältnisse, also eine Forderung, die in der Vergangenheit bereits erfüllt gewesen ist. Die Revolte war rückwärtsgewand, die Initiative und Kontrolle der Ereignisse von 1989/90 ging von den Straßen ostdeutscher Großstädte auf den westdeutschen Regierungssitz in Bonn über. Exogene Faktoren bestimmten nun die Geschehnisse in Ostdeutschland, die Revolution ist somit gescheitert. Der Klassenkampf änderte seine Richtung: Es lag nun in der Hand der Bourgeoisie die sozialen Errungenschaften im Osten zu bekämpfen und ihre 1945 verloren gegangene Herrschaft wieder zu erlangen. Es ist bezeichnend, dass der 09.November, welcher eigentlich als Unglücksdatum in das Gedächtnis der Deutschen für ewig eingebrannt sein müsste, heute wieder fröhlich gefeiert und gewürdigt wird.
Liest man Stellungnahmen über die Bedeutung der Jahre 1989ff von in ihren Fachbereich bekannten Persönlichkeiten, so erkennt man nicht viele Unterschiede in ihren Meinungen. Stern, Kocka, Schulze, Winkler – alle preisen diese Jahre nicht unvoreingenommen als Befreiungsschlag, Erlösung, Endsieg liberaldemokratischer Ideen (Stern und Kocka) sogar als engültiger Wendepunkt der deutschen Geschichte, der Abschluss der bisherigen deutschen Geschichte und ein historischer Neubeginn (Schulze), der Sieg des „Lebensgefühls gegen Staatsdoktrination“ (Winkler).
Doch wie sieht die historische Wahrheit aus? Sind Anspruch und Wirklichkeit dieser westlichen Analytiker wirklich identisch? Sicherlich, es wurde Freiheit errungen. Aber die Errungenschaften von 1989/90 beschränkten sich auf typisch bürgerliche Freiheiten. Es folgte der Verlust der sozialen Freiheit zugunsten der rechtlichen Freiheit. Es ging nicht nur der abstrakte Traum vieler Sozialisten aller Art verloren, dass eine bessere Welt bzw. ein besseres Deutschland möglich sei, sondern auch ganz konkret ließ die errungene rechtliche Freiheit seinen Preis spüren: Totale Enteignung der ostdeutschen Bevölkerung, Deindustrialisierung Ostdeutschlands, Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitslosigkeit, weniger Lohn bei gleicher Arbeit, der Verlust sozialer Sicherheit, Rentenungleichheit, Abbau sozialer und kultureller Einrichtungen, eine Mehrklassenmedizin. Mit der Restauration des Kapitalismus in Ostdeutschland ging das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf gleiche Bildungschancen, auf medizinische Betreuung, soziale Sicherheit bei Krankheit und im Alter verloren.
Die deutsche Bevölkerung ist auf gefährliche Wahlkampfversprechungen hereingefallen, hat den Lügen von den »blühenden Landschaften« geglaubt, dem Gerede, dass es »keinem schlechter, aber vielen besser gehen wird«. Die Konsequenz war, dass Freiheit de jury wirklich wiederhergestellt worden war, aber Freiheit vorallem in der Wirtschaft, sodass de facto Freiheit in der postrealsozialistischen Ära wieder identisch ist mit Reichtum.
„Vollzogen hat sich der Übergang von der Herrschaft der Politbürokratie zur Herrschaft des großen Kapitals. Letztere ist nicht weniger total als die erstere. In Wirklichkeit war es der historische Rückweg von einem, wenn auch gescheiterten, weil deformierten, inkonsequenten Versuch qualitativen sozialen Fortschritts, zu dem gesellschaftlichen Zustand davor, der diesen Versuch notwendig und möglich gemacht hat.“ (Heinz Kallabis in: "Was war die DDR?")
Letztlich war dieses Moment der „Freiheit in Einigkeit“ nichts als ein weiterer Sturz der Deutschen in einen historischen Abgrund, welcher einmal mehr in einer Katastrophe mündete.
Doch die eigentliche Ironie der Geschichte liegt darin, dass das Marx´sche Ziel der Herrschaftsfreiheit in der klassenlosen Gesellschaft, insbesondere in Ostdeutschland 1949-1989, zur weltanschaulichen Legitimation eines Gesellschaftssystems beitragen konnte, das sich zur eigenen Stabilisierung wesentlich auf bürokratisch-staatliche Herrschaft stützen sollte.
Das Scheitern des 3. Sozialismusversuches -nach den ersten kommunistisch organisierten Betrieben in den Kolonien Nordamerikas durch Robert Owen Anfang des 19. Jh und der Pariser Kommune von 1871- eröffnet aber gleichzeitig Perspektiven. Moderne Sozialisten können wieder selbst denken – unabhängig von dem Einfluss der dogmatischen Rechtfertigungsideologie des von Stalin pervertierten Marxismus-Leninismus, unter dessen Klauen die DDR von Anfang bis Ende zu leiden hatte. Die Wende bietet also eine Chance zu einer neuen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Schriften von Karl Marx und dessen mögliche Aktualität zu heutigen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse im vereinten Deutschland des 21. Jh. Die Zukunft wird zeigen, ob man aus geschichtlichen Erfahrungen lernen kann und wird.
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