Ein Statement zur deutschen Wiedervereinigung
Im Folgenden möchte ich ein Statement abgeben zu den Veränderungen der Jahre 1989/90 und dessen Folgen. Mir erscheint es notwendig, den Verlauf der Wendezeit kurz zu rekapitulieren, um mich danach mit den Meinungen der vier Autoren Stern, Kocka, Schulze und Winkler auseinandersetzen zu können, dessen Folgerungen sich allesamt so zusammenfassen lassen: Erstmals in der deutschen Geschichte sei (nicht näher definierte) Freiheit und nationale Einheit erreicht, Deutschland stehe an einen historischen Wendepunkt.
Die Ereignisse vom 09.November 1989 und 03.Oktober 1990 sind zentrale Bestandteile der neueren deutschen Geschichte, vergleichbar nur mit dem 08.Mai 1945, dem 30.Januar 1933 oder dem 11.November 1918.
Doch im Gegensatz zu den vorherigen zentralen Daten basieren die Ereignisse der Wendezeit auf einer Implosion, nicht auf einer Explosion. Die Revolution begann auf den Straßen ostdeutscher Großstädte, dessen Ursache vorrangig auf innenpolitische Missstände der DDR zurückzuführen ist. Der gesamte Prozess war ein objektiver Klassenkampf; das Volk revoltierte anfangs gegen die bürokratische Staatselite der sozialistischen Kaderpartei, das Ziel war ein sg. „demokratischer Sozialismus“ und kann durchaus im Vergleich zur klassischen Einparteiendiktatur als fortschrittlich bezeichnet werden. Die Restauration des Kapitalismus war anfangs nicht Intention der rebellierenden Massen. Dies spiegelt sich in der bestimmenden Parole „Wir sind das Volk“ wider. Von den ökologisch, demokratisch und pazifistisch auftretenden Akteuren, die bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 und 1989 im „Neuen Forum“, in der Gruppe „Demokratie jetzt“, im „Demokratischen Aufbruch“, in der Gründungsgruppe der Grünen Partei sowie der Sozialdemokratischen Partei in Ostdeutschland in Erscheinung traten, waren nationalistische und prokapitalistische Absichten nie formuliert worden. Sie gingen vom Fortbestand der Deutschen Demokratischen Republik und des sozialistischen Eigentums aus, allerdings verwaltet durch veränderte (nämlich demokratisierte) politische Bedingungen.
Der Übergang von Revolution zu Konterrevolution kennzeichnet wiederum die Parole „Wir sind ein Volk“. Ziel war nicht mehr die politische Emanzipation des menschlichen Individuums, sondern die nationale Einheit Deutschlands unter kapitalistischer Verhältnisse, also eine Forderung, die in der Vergangenheit bereits erfüllt gewesen ist. Die Revolte war rückwärtsgewand, die Initiative und Kontrolle der Ereignisse von 1989/90 ging von den Straßen ostdeutscher Großstädte auf den westdeutschen Regierungssitz in Bonn über. Exogene Faktoren bestimmten nun die Geschehnisse in Ostdeutschland, die Revolution ist somit gescheitert. Der Klassenkampf änderte seine Richtung: Es lag nun in der Hand der Bourgeoisie die sozialen Errungenschaften im Osten zu bekämpfen und ihre 1945 verloren gegangene Herrschaft wieder zu erlangen. Es ist bezeichnend, dass der 09.November, welcher eigentlich als Unglücksdatum in das Gedächtnis der Deutschen für ewig eingebrannt sein müsste, heute wieder fröhlich gefeiert und gewürdigt wird.
Liest man Stellungnahmen über die Bedeutung der Jahre 1989ff von in ihren Fachbereich bekannten Persönlichkeiten, so erkennt man nicht viele Unterschiede in ihren Meinungen. Stern, Kocka, Schulze, Winkler – alle preisen diese Jahre nicht unvoreingenommen als Befreiungsschlag, Erlösung, Endsieg liberaldemokratischer Ideen (Stern und Kocka) sogar als engültiger Wendepunkt der deutschen Geschichte, der Abschluss der bisherigen deutschen Geschichte und ein historischer Neubeginn (Schulze), der Sieg des „Lebensgefühls gegen Staatsdoktrination“ (Winkler).
Doch wie sieht die historische Wahrheit aus? Sind Anspruch und Wirklichkeit dieser westlichen Analytiker wirklich identisch? Sicherlich, es wurde Freiheit errungen. Aber die Errungenschaften von 1989/90 beschränkten sich auf typisch bürgerliche Freiheiten. Es folgte der Verlust der sozialen Freiheit zugunsten der rechtlichen Freiheit. Es ging nicht nur der abstrakte Traum vieler Sozialisten aller Art verloren, dass eine bessere Welt bzw. ein besseres Deutschland möglich sei, sondern auch ganz konkret ließ die errungene rechtliche Freiheit seinen Preis spüren: Totale Enteignung der ostdeutschen Bevölkerung, Deindustrialisierung Ostdeutschlands, Abbau von Arbeitsplätzen und Arbeitslosigkeit, weniger Lohn bei gleicher Arbeit, der Verlust sozialer Sicherheit, Rentenungleichheit, Abbau sozialer und kultureller Einrichtungen, eine Mehrklassenmedizin. Mit der Restauration des Kapitalismus in Ostdeutschland ging das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf gleiche Bildungschancen, auf medizinische Betreuung, soziale Sicherheit bei Krankheit und im Alter verloren.
Die deutsche Bevölkerung ist auf gefährliche Wahlkampfversprechungen hereingefallen, hat den Lügen von den »blühenden Landschaften« geglaubt, dem Gerede, dass es »keinem schlechter, aber vielen besser gehen wird«. Die Konsequenz war, dass Freiheit de jury wirklich wiederhergestellt worden war, aber Freiheit vorallem in der Wirtschaft, sodass de facto Freiheit in der postrealsozialistischen Ära wieder identisch ist mit Reichtum.
„Vollzogen hat sich der Übergang von der Herrschaft der Politbürokratie zur Herrschaft des großen Kapitals. Letztere ist nicht weniger total als die erstere. In Wirklichkeit war es der historische Rückweg von einem, wenn auch gescheiterten, weil deformierten, inkonsequenten Versuch qualitativen sozialen Fortschritts, zu dem gesellschaftlichen Zustand davor, der diesen Versuch notwendig und möglich gemacht hat.“ (Heinz Kallabis in: "Was war die DDR?")
Letztlich war dieses Moment der „Freiheit in Einigkeit“ nichts als ein weiterer Sturz der Deutschen in einen historischen Abgrund, welcher einmal mehr in einer Katastrophe mündete.
Doch die eigentliche Ironie der Geschichte liegt darin, dass das Marx´sche Ziel der Herrschaftsfreiheit in der klassenlosen Gesellschaft, insbesondere in Ostdeutschland 1949-1989, zur weltanschaulichen Legitimation eines Gesellschaftssystems beitragen konnte, das sich zur eigenen Stabilisierung wesentlich auf bürokratisch-staatliche Herrschaft stützen sollte.
Das Scheitern des 3. Sozialismusversuches -nach den ersten kommunistisch organisierten Betrieben in den Kolonien Nordamerikas durch Robert Owen Anfang des 19. Jh und der Pariser Kommune von 1871- eröffnet aber gleichzeitig Perspektiven. Moderne Sozialisten können wieder selbst denken – unabhängig von dem Einfluss der dogmatischen Rechtfertigungsideologie des von Stalin pervertierten Marxismus-Leninismus, unter dessen Klauen die DDR von Anfang bis Ende zu leiden hatte. Die Wende bietet also eine Chance zu einer neuen wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Schriften von Karl Marx und dessen mögliche Aktualität zu heutigen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse im vereinten Deutschland des 21. Jh. Die Zukunft wird zeigen, ob man aus geschichtlichen Erfahrungen lernen kann und wird.
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