Am 30.Juni 2011 fand im Gießener Café Amélie ein Diskussionsvortrag mit Modaira Rubio Marcano (venezolanische Journalistin und Mitglied der Kommunistischen Partei Venezuelas) über das Thema „Entwicklung und Perspektiven der bolivarischen Revolution – Gibt es eine sozialistische Perspektive?“ statt. Modaira Rubio Marcano (geboren 1973 in Caracas) hat ihr Hochschulstudium mit einer Arbeit zu Geschlechterfragen und Außenpolitik abgeschlossen. Seitdem arbeitet sie als Journalistin überwiegend zu dem Thema Geschlechtergerechtigkeit unter lateinamerikanischen Aspekten. Sie ist Mitglied eines internationalen Journalistennetzwerkes mit Gendervision sowie Mitglied der Frauenbewegung Venezuelas. Für ihre Arbeit als Journalistin arbeitete sie bei verschiedenen Printmedien.
In ihrem Vortrag thematisiert sie die sozialistische Perspektive der bolivarischen Revolution: Angestoßen u.a. durch Hugo Chávez wird v.a. in Venezuela der Sozialismus des 21.Jahrhunderts diskutiert. Und seit dem Beginn der Bolivarischen Revolution hat sich bereits vieles verändert: Umfangreiche Nationalisierungsmaßnahmen in der Wirtschaft, stärkere Einbindung der Bevölkerung in politische Prozesse u.a. durch Consejos Comunales, Programme in den Bereichen Gesundheit und Bildung (Misiones), welche besonders den Armen zugute kommen.
Modaira Rubio Marcano referierte u.a. über die Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die Rolle der Kommunistischen Partei Venezuelas im Bolivarischen Prozess, Erfolge, Missstände und Ziele der Bolivarischen Revolution, die Rolle der Frauenbewegung, neue Widersprüche in der Errichtung des Sozialismus sowie über die Bedeutung des kommenden Jahres 2012 für die Revolution. Im Folgenden nun eine thesenartig notierte Zusammenfassung des Diskussionvortrages:
- Der Bolivarische Prozess ist seit 1998 ein antiimperialistischer und seit 2004 ein zusätzlicher sozialistischer Prozess. Ziel des Prozesses ist die Beseitigung des kapitalistischen Systems und seine Ersetzung durch den Sozialismus. Dieser Prozess ist fortschrittlich, antimonopolistisch und demokratisch und hat das Ziel, den Reichtum gleichmäßig zu verteilen.
- Die Partido Comunista de Venezuela (PCV; dt: Kommunistische Partei Venezuelas) unterstützt diesen Prozess von links.
- Im Zentrum des Kampfes steht die Änderung des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses. Um dieses Ziel der Änderung der Kräfteverhältnisse zu erreichen, nimmt das aktive und organisierte werktätige Volk Einfluss durch die Gründung von Consejos Comunales (dt.: kommunale Räte).
- Durch den Aufbau von Consejos Comunales sollen Räume erkämpft und die Poder Popular (dt.: Volksmacht) geschaffen werden, welche im Gegensatz zu den Machtstrukturen des bürgerlichen Staates steht.
- Neben der Arbeiterklasse wirken auch Bauern, die städtische Mittelschicht und die kleine nicht-monopolistische Bourgeoisie an diesem Prozess mit. Die Einheit der fortschrittlichen Kräfte ist Voraussetzung, um die Macht der proimperialistischen Bourgeoisie und der Finanzoligarchie zurückzudrängen, welche gegen den Transformationsprozess zum Sozialismus ankämpfen.
- Bisherige Erfolge der Bolivarischen Revolution: Die Privatisierung der Erdölindustrie und strategisch wichtiger Schlüsselindustrien (Strom, Wasser, öffentliche Dienstleistungen) an das Finanzkapital wurde gebremst und z.T. auch wieder zurückgenommen. Vor 1999 war die Erdölindustrie kurz davor, auf eine antipatriotische Weise an transnationale Konzerne ausgeliefert zu werden. Der Neoliberalismus wurde in Venezuela also ausgebremst und die Haupteinnahmequellen des Volkes gesichert.
Außerdem wird der Großgrundbesitz bekämpft.
- Nächster Schritt muss die Einführung einer partizipativen Planung der Wirtschaft mit aktiver Beteiligung der Werktätigen sein. Dies zu erreichen wird zwar noch ein langer Weg sein, zeigt aber eine sozialistische Perspektive des Bolivarischen Prozesses auf.
- Die heutige venezolanische Arbeiterklasse reorganisiert sich von 40 Jahren sozialdemokratischer Herrschaft der „falschen Demokratie“, in der Gewerkschaften im Dienste der herrschenden Sozialdemokratie standen. So kam es auch dazu, dass die Gewerkschaft CTV den 2.Putschversuch gegen Presidente Chavez unterstützt hat und anschließend dank der progressiven Arbeiterklasse von der politischen Bühne verschwunden ist. Die neue Gewerkschaft UNT ist zwar Pro dem Bolivarischen Prozess, bildet aber noch keine sozialistische Einheitsgewerkschaft.
- Die Rolle der Partido Comunista de Venezuela ist zwar klein, sie bildet aber eine hohe moralische Kraft und Stärke. So brachte die PCV bspw. einen Gesetzesentwurf ein, der sich für eine Arbeitszeitverkürzung und vermehrter kollektiver Arbeiterkontrolle (Schaffung von Räten und kollektive Leitung der Betriebe) ausspricht. Dieser wurde zwar leider im Parlament nicht angenommen, er ist aber innerhalb der Arbeiterklasse bekannt geworden. Teile der klassenbewussten Arbeiterklasse gründen nun dennoch sozialistische Räte.
- Dies erzeugt Zusammenstöße mit der staatlichen Bürokratie. Staatsfunktionäre widersetzen sich der Control Obrero (dt.: Arbeiterkontrolle). Hier entstehen also neue Widersprüche zwischen der Arbeiterklasse und der staatlichen Bürokratie.
- Dem Bolivarischen Prozess ist es bewusst, dass zwischen dem subjektiv Gesagten / Gewollten und der objektiven Wirklichkeit ein Widerspruch besteht bzw. bestehen kann. Der Sozialismus lässt sich nicht durch ein Dekret einführen.
- Der Sozialismus im 21.Jahrhundert wird ein feministischer Sozialismus sein, der die Abschaffung der doppelten Ausbeutung der Frau zum Ziel hat. Die venezolanische Frauenbewegung organisiert sich in Arbeitskreisen und ist auch Mitverantwortlich für verschiedene Frauenrechte in der Bolivarischen Verfassung. Bsp.: In Artikel 88 wurde das Recht der Hausfrau auf soziale Sicherheit festgelegt. Das Recht der Frau auf ein gewaltfreies Leben wurde insofern konkretisiert, dass der Begriff „Gewalt“ definiert worden ist. So zählt heute auch sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als eine Form der Gewalt.
- Das Jahr 2012 wird ein entscheidendes Jahr der Bolivarischer Revolution sein. Die Partido Comunista de Venezuela wird die Präsidentschaftskandidatur von Hugo Chávez unterstützen, da er die Garantie für die Fortsetzung des Bolivarischen Prozesses ist.
- Das erste Ziel muss es sein, die politische Einheit aller linken Kräfte in einen Patriotischen Pol herzustellen, um seine Wiederwahl zu sichern.
Der letzendliche Stimmenvorsprung Chávez´s muss beträchtlich sein, um das Projekt Sozialismus im 21.Jahrundert weiter vorantreiben zu können. Bei Erfolg muss das Wahlbündnis „Patriotischer Pol“ sich zu einer kollektiven Führung weiterentwickeln, welche die Revolution weiter vorantreiben wird.
- Zu der Rolle von Hugo Chávez in der Bolivarischen Revolution: Der sg. „Chavismus“ ist ein Terminus von oppositionellen Leuten, die von dem realen Bolivarischen Prozess ablenken wollen. Chávez stellt in diesem Prozess eine Hauptpersönlichkeit dar, das Hauptsubjekt ist aber das venezolanische (werktätige) Volk. Es gibt keinen „Chavismus“. Chávez konnte sich nur dank dem organisierten Volk an der Macht halten (Bsp.: Putschversuche im April 2002 und um die Jahreswende 2002/03). Das Volk wiederum hat erkannt, dass Chávez an der Spitze der Bolivarischen Revolution eine historische Notwendigkeit darstellt.
- Phänomen in Venezuela: Aus den 70er gibt es interessante Beiträge zum Sozialismus durch linke Studenten und aus Teilen der Intelligenz. Heute sind diese die schärfsten Gegner von Hugo Chávez. Ihr reaktionäre Kritik am Bolivarischen Prozess triebe einem aufgeklärten Bürger die Schamesröte ins Gesicht. Bspw. sagen diese ganz offen und ungestört in den Medien, in Venezuela gebe es keine Meinungsfreiheit. Oder sie sagen während Wahlkampagnen, in Venezuela herrsche eine „Castro-kommunistische Diktatur“ und nehmen dabei Einfluss von dem Parlament aus.
- Zur Rolle der Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV; dt.: Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas) im Bolivarischen Prozess: Die PSUV ist eine neue, im Aufbau und in der Formierung begriffene fortschrittliche Partei. Es gibt dort antikommunistische Elememte und Elemente, welche die Zusammenarbeit mit der PCV strikt befürworten. Ebenso gibt es dort Teile, welche die Control Obrero befürworten, andere Teile wiederum halten an der staatlichen Bürokratie fest.
- Die Bolivarische Republik Venezuela wird 2015 der einzige Staat sein, welche die Millenniumsziele der Vereinten Nationen erfüllt haben wird (Überwindung der extremen Armut, alle Kinder am Bildungswesen teilnehmend, Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung und zu Lebensmitteln). Im Gegensatz zu anderen Ländern Lateinamerikas ist der Hunger in Venezuela heute nicht mehr existent.
- Allerdings bleibt die Korruption eines der Hauptprobleme im Land. Mittel für Sozialprogramme werden durchaus auch andersweitig, d.h. zur eigenen Bereicherung, eingesetzt. Die existente Korruption kann nur durch eine soziale Kontrolle reguliert werden.
- Ferner ist sich die PCV ebenfalls bewusst darüber, dass die auf Erdöl-Export basierende Ökonomie Venezuelas ein Problem darstellt, welches nur durch eine angehende Industrialisierung gelöst werden kann.
- Um die Souveränität der Lebensmittelproduktion zu erreichen, sollen auch kleinere und mittlere Produzenten in der Landwirtschaft gefördert werden.