Nachdem ich mich im Januar bereits mit dem historischen Imperialismus beschäftigt habe, möchte ich nun eine moderne Imperialismustheorie von David Harvey vorstellen. Harvey ist US-amerikanischer Geologe und -natürlich- Marxist, er beschäftigt sich also aus marxistischer Perspektive mit der ländlichen Ausbreitung des Kapitalismus.
3 Phasen des US-Imperialismus
Harvey unterschiedet zwischen drei verschiedenen Formen US-imperialistischer Tätigkeit:
I.Phase:
Diese Phase hatte ihre Hochzeit bis ca. 1970. Sie ist gekennzeichnet durch eine indirekte Kontrolle anderer Staaten durch Kompradorenregierungen. Die USA geben Präsidenten v.a. von lateinamerikanischen Staaten Finanz- und Militärhilfen, dafür tut dieser, was die US-Regierung von ihm verlangt. Dieses Bündnis gewährleistet die Ausbeutung der betroffenen Staaten durch die Regierung selbst (private Bereicherung) und durch US-amerikanische Konzerne. Es besteht also eine Mischung aus Zwang und Konsens mit irgendeiner oligarchisch herrschenden Gruppe.
Als Paradebeispiele lassen sich Nicaragua unter Präsident Somoza und das damalige Persien unter dem Shah anführen.
Die II.Phase lässt sich von den 70ern bis zu den 90ern datieren. Harvey nennt diese Form den "neoliberalen Imperialismus". Man bedient sich hier der Macht des Finanzkapitals, manifestiert in Organisationen wie der WTO und des IWF. Durch Strukturanpassungsprogramme soll das neoliberale Freihandelsmodell weltweit durchgesetzt werden, d.h. offene Kapitalmärkte, offene Warenmärkte, keine Schranken für ausländische Investitionen etc. Immer, wenn Staaten in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, mussten sich diese an das IWF wenden, um Kredite gewährt zu bekommen. Der IWF gewährt diese Kredite aber nur, wenn die betroffenen Staaten im Gegenzug privatisieren, soziale Leistungen kürzen und ihre Kapitalmärkte liberalisieren, d.h. öffnen.
Paradebeispiel: Der Sturz Allendes in Chile und Ersetzung durch den US-hörigen Faschisten Pinochet. Chile wurde zum Experimentierfeld der Chicagoer Schule, das Modell des neoliberalen Wirtschaftssystems wurde hier zum ersten Mal vollständig durchgeführt (totale Privatisierungen).
Zu beachten ist, dass dies kein exklusiv amerikanisches Modell ist, sondern von anderen zentralen kapitalistischen Mächte wie die EU und Japan unterstützt wird.
Die III.Phase ist die gegenwärtige und wird als "neokonservativer Imperialismus" bezeichnet. Dieser neokonservativer Imperialismus ist nicht in Abgrenzung zum neoliberalen Imperialismus zu sehen, sondern als ihr Bestandteil. Die neokonservative Form des US-Imperialismus kennzeichnet sich nur dadurch, dass es vermehrt versucht, die neoliberale Wirtschaftsordnung mit militärischen Gewaltmaßnahmen und direkten Interventionen durchzusetzen.
Das neokonservative Modell kommt also dort zum Ausdruck, wo sich das neoliberale Modell nicht durch die Druckmittel von IWF und WTO friedlich durchsetzen lässt. Das ist z.B. in Ölstaaten so, die langfristig unabhängig von Finanzhilfen agieren können. So ist das große Interesse der USA an militärischen Interventionen im gesamten Nahen Osten zu erklären. Ölstaaten sind nicht über den IWF zu disziplinieren, sie geraten nicht in Finanzkrisen wie Nicht-Ölstaaten, weshalb das altbewährte Mittel der brachialen Gewalt herhalten muss, um diese Sonderfälle in den liberalisierten Weltmarkt und die neoliberale Weltordnung zu integrieren.
Die Neokonservativen in den USA verheimlichen diese Absicht auch gar nicht. Ihr Ziel ist, im Namen der westlichen Demokratien in der ganzen Region des Nahen Ostens die Freiheit zu verbreiten. Unter Freiheit ist in diesem Fall selbstverständlich nur die Freiheit des Marktes und des Handels zu verstehen. Zitat von G.W.Bush: „Wir haben dem irakischen Volk die Freiheit gebracht, und unsere Vorstellung ist, dem gesamten Mittleren Osten die Freiheit zu bringen.“
Paradebeispiele: Irak, Afghanistan. Das Maßnahmenprojekt für den Irak ist identisch mit dem neoliberalen Modell, welches in Chile bereits verwirklicht worden war.
Diese 3 Phasen des US-Imperialismus greifen selbstverständlich auch ineinander über. Das Konzept der indirekten Kontrolle, also der I.Phase, gilt auch heute noch in einigen Fällen.
Akkumulation durch Enteignung
Das Merkmal des modernen Imperialismus ist die Akkumulation durch Enteignung, was auch die ökonomische Grundlage des neoliberalen Imperialismus bildet. Diese findet statt sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie.
Dabei werden besonders im Zentrum auch funktionierende Ökonomien eines Staates Kredite verwehrt und diese so in Ruin getrieben, sodass das Großkapital als „Retter“ Firmen für geringen Preis aufkaufen kann.
Bsp. für Methoden der Akkumulation durch Enteignung:
- Abbau des Sozialstaates bzw. Wohlfahrtsstaates und sozialer Errungenschaften der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch Privatisierungen öffentlicher Institutionen, Leistungen und Güter
→ Permanente Enteignung der Bevölkerung an ihren Gemeinschaftsgütern
- Amerikanischen Familienbetrieben wurden im Agrarsektor Kredite verweigert und gingen bankrott. Industriell-agrarische Großunternehmen konnten ihre Betriebe sodann übernehmen
→ Enteignung US-amerikanischer Kleinfarmer
- Mexikanische Kleinbauern wirtschafteten bis in die 90er Jahre mit einer auf Gemeinschaftseigentum basierenden Anbaufläche (indigene Kollektivrechte). Als Mexiko in Finanz- und Schuldenkrisen geriet und die IWF um Kreditunterstützung bat, wurde dem mexikanische Staat von der IWF zur Auflage gemacht, dass er das auf Gemeinschaftseigentum basierende Agrarsystem privatisieren muss. D.h., der mexikanische Staat bekam nur Kredite, da er durch die Armee die Kleinbauern um ihr Land enteignet und ihrer traditionellen Rechten beraubt hat, sodass das US-Agrarbusiness sich dort ansiedeln konnte.
In diesem Fall hatte dies massive Aufstandsbewegungen der Zapatisten in Südmexiko zur Folge, welche wiederum von der mexikanischen Armee auf Druck von der USA niedergeschlagen werden musste.
→ Enteignung der mexikanischen Bauen durch den eigenen Staat und seinem Militär auf Druck des US-Kapitals
Harvey unterscheidet zwischen zwei Arten der kapitalistischen Akkumulation:
I.)Erweiterte Reproduktion: „Normaler“ Akkumulationsvorgang, Ausbeutung der Ware Arbeitskraft, Mehrwert, Rationalisierungen, Investitionen bzw. technische Modernisierungen etc. Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens.
II.)Akkumulation durch Enteignung: Begleitender Akkumulationsfaktor, beruht auf Diebstahl, Betrug und Enteignung. Diesem Akkumulationstyp ist es zu verdanken, dass das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate nicht zum Zusammenbruch des Kapitalismus führt.
In der neoliberalen Phase des Imperialismus nahm der II.Faktor zu, während der I.Faktor -der noch in den 50er und 60er Jahre große Bedeutung hatte- in seiner Bedeutung zumindest für das Zentrum abnahm. Wohlgemerkt handelt es sich bei der II.Phase nur um eine relative Akkumulation. Enteignungen an sich schaffen keine neuen Werte wie die Ausbeutung der Arbeitskraft, sondern verteilt Reichtum, Arbeit und Werte nur um.
→ Polarisierung von Reichtum und Arbeit sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene
→ Anknüpfung an der sg. Ursprünglichen Akkumulation unter Enteignung der Landarbeiter. Die sg. Ursprüngliche Akkumulation hat also nie ein Ende gefunden, sondern besteht bis heute fort.
Schlussfolgerungen:
Der mit dem modernen Imperialismus einhergehende Neoliberalismus ist gekennzeichnet durch eine gigantische Maschinerie der Enteignung (Enteignungsökonomie). Der Enteignungsprozess des Marktes ist als strukturelle Gewalt des heutigen Kapitalismus zu verstehen. Die strukturelle Überakkumulation der Marktwirtschaft lässt sich nur lösen durch eine Erhöhung des Akkumulationpotenzials, also durch Enteignungsprozesse.
Der Staat dient als gewaltsamer Garant des Enteignungsprozesses (Bsp. Agenda 2010, Mexiko)(enge Verflechtung von Kapital und Staat).
Funktion des Staates im modernen Imperialismus:
Schaffung einer Umgebung, in der Akkumulation stattfinden kann. Jeder Staat möchte dabei, dass Kapitalakkumulation auf seinem eigenen Territorium stattfindet („Standortkonkurrenz“.)
→ Permanenter nationalstaatlicher Wettbewerb um die Anlockung von Kapitalakkumulation
Dies bedeutet einerseits, dass die inneren Verhältnisse an diesem Wettbewerb angepasst werden (Abbau von sozialen Rechten, direkte Stärkung des eigenen Standortes), andererseits auch, dass die äußere Welt nach dem neoliberalen Prinzip versucht wird zu strukturieren. So versuchen speziell die USA, andere Staaten unter finanzielle Druckmitteln hinter die neoliberale Fahne zu vereinigen, damit sie in äußeren Sphären fremde Ressourcen erwerben kann (durch den Prozess der Akkumulation der Enteignung). Oder anders ausgedrückt: Das neoliberale Zentrum kann die Peripherie dann am Besten ausbeuten, wenn diese selbst ein neoliberales Wirtschaftsmodell angenommen hat.
Bsp. für direkten Imperialismus:
- Chile 1973 durch CIA-Putsch gegen Allende
- Irak 2003 durch den gewaltsamen Sturz Husseins
- Libyen 2011 durch die militärische Intervention in einem laufenden Bürgerkrieg
Bsp. für indirekten Imperialismus:
- Bsp. Mexiko
Eine neue antiimperialistische Strategie muss sich zunehmend zwischen den Fronten stellen. Der klassische Konflikt der politischen Linken zwischen Verbreitung von Menschenrechten und Sicherung des Friedens muss im Falle Libyens so gelöst werden, dass der militärische Angriff der NATO-Staaten nicht kritisiert werden kann, ohne das libysche Regime zu kritisieren.